Das Schuljahr liegt in den letzten Zügen – Notiz

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Am 7.7.03 abends geht mir der Ethik-Kurs durch den Kopf: 

Feyerabend ist zu harmlos. Und ich habe ihn schon zu oft durchgekaut. Er gehört in die heile Welt des elitären Campus; er war selber Unterrichtender, also wie ich auf der illusionären Seite der Schulfront. Und vor dem Petersdom auf der Spießerterrasse konnte ich ihn noch nie besonders leiden. (Interview des wdr 1993)

Das Schuljahr ist zu weit fortgeschritten. Abizeitung und mein periodisch auftretendes Burnout verbünden sich. Meine Phantasien beschäftigen sich mit einem wilderen Zuschnitt der Lehrerrolle, wie ich sie bei H. mit Gründen vermute.

Woher eigentlich die destruktive Abwehr der Jugend gegen ehrlich gemeinte Angebote politischer und historischer Aufklärung? So wie es aussieht, scheitere ich pädagogisch an Spiel, Rausch und Verführung. Das Einfühlungsprinzip meiner Mediendidaktik ist naiv – wenn mir nicht die Kommentierung herzlos gerät und Skandal erregt.

Jean Baudrillard (*1929)  denkt Vilem Flusser (*1920) eins, zwei Generationen weiter, und seine Sprache hat oft schon etwas vom delirierenden Schwachsinn, voll von metaphorischen Wucherungen und bodenlosen Assoziationen (von „sich zueinander gesellen“). Und wann kann ich diese ungewissen und schlüpfrigen Pfade („Diskurs“ geheißen) eher wagen, als wenn ohnehin alles Reguläre gelaufen ist?

Also was jetzt? Baudrillard  und sein SPIEGEL-Interview „J´ai la haine“ („Ich hab´den Hass“, „dem jedes bestimmbare Objekt fehlt“).* „In unserer Welt werden Konflikte augenblicklich weggeredet und unsichtbar gemacht“ (S.69). Baudrillard sieht als „Tatsache, dass es keine Lösung gibt, dass für all die Probleme, die die Geschichte aufbrachte, keine Lösung möglich ist“ (S.70), dass es „in der Politik“ nicht „um Einsätze geht“, nur noch um „Einsätze dieser oder jener Lobby“, u.s.w.   *Anm.: Ich vermische hier SPIEGEL 3/2002 und den Sampler bei ‘Zweitausendeins’: Short Cuts 7, Febr.2003)

Aber wird sich der diabolische Geist des Dialogs ohne meine üblichen Kürzungen vermitteln? Sind die Mädchen zu brav? Das wage ich zu bezweifeln, nicht mit guter Erziehung verwechseln. Wir beginnen mit den Besäufnissen und dem Ballermann-Syndrom unter den Dreizehnern, bei einigen genuin, bei anderen als Anpassungsversuch simuliert. Der tägliche Vandalismus in der Pausenhalle bietet sich an. Ebenso der Bericht von aggressiven Partyheimsuchungen („Gate-Crashing“) unter australischen Jugendlichen (FAZ 5.7.03,S.9.).

Und das Wort „Indifferenz“.

Am Ende langer Schulwochen spüre ich unabweislich, wie stark ich gewöhnlich halten, eher: dagegen halten muss (oder antreiben) gegen eine Indifferenz, die stärker ist als ich. Das war immer Schulrealität, aber wo ist noch ihre Abgrenzung zur aktiven Welt der Erwachsenen? Von den Medien sagt Baudrillard, sie „produzieren Indifferenz… Zwar gibt es keinen Stuhl auf der Bühne, der unbesetzt bliebe, aber wir wissen genau, dass nichts geschehen wird, potenziell gar nichts.“ (S.67). – Ist das nicht auch Schulrealität?  Folgenloses Wissen,  Informationen die nicht weiter bringen.

Aber wir begegnen auch Worten wie reaktive Energie, allergische Reaktionen und Hass, der nur durch acting out in Erscheinung tritt, sowie eine Art tiefsitzende Verneinung , Verachtung dessen, was wir (die Repräsentanten der universalistischen Weltordnung) repräsentieren. Der Rolling-Stones-Kult meiner Generation und ihrer jüngeren Geschwister hat  doch auch etwas davon, in der Verkleidung der 68er! „I Can Get No Satisfaction“) – Und ich werde noch respektabel!  Desexualisiert.

Tags drauf:

Baudrillard  gibt mir mit „Indifferenz“ und „allergische Reaktion“ (schöner als „Ideosynchrasie“!) handliche Begriffe. Er gibt eine Ahnung von Französischer Philosophie und Sozialwissenschaft. An ihm das freie Denken studieren, das kritische Spiel mit den herumfliegenden bzw. kursierenden Brocken des öffentlichen Diskurses. Er verführt mich dazu, andere kulturelle Spielregeln zu akzeptieren. Dabei denke ich an den Film über die Probleme von Siemens mit der eingekauften französischen Firma Matra.

Ein neues Buch: Flusser „absolute“ 2003 : Vilem Flusser ein- und ausatmen! Die Nutzung präparierter Texte hat mich ermüdet, aber so elegant verpackt und gestylt ist er ein leichtfüßiger Brasilianer geworden, mit einer Leichtigkeit des Seins, die ich wieder einatmen möchte. Und ein paar Konturen werden genauer gezogen! Bei diesem Autor ist die künstlerische Montage der richtige Weg, nicht eine „Kritische Werkausgabe“. Glückliche Momente, in  denen ich mich bereits in Flussers neuem Haus wohlfühle!

 

 

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