Zwei Pensionäre betrachten Spickzettel

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Mit meinem Kollegen und Freund M. G. besuche ich die Ausstellung im Kommunikationsmuseum am Main. Sie ist als Olympiade der Spicker, als Leistungsschau organisiert, mit Spitzenleistungen und mit Champions, die es im Leben noch zu etwas gebracht haben – zum Beispiel Adenauer – und für ein Kommunikationsmuseum passend als Technikgeschichte.

Die ganze lange Vitrine voller Papierschnitze lässt einen wichtigen Aspekt vergessen: die hinter ihnen stehenden Geschichten und Schicksale. Das wäre Sache der Literatur. Da ließe sich beispielsweise der Aspekt der Strafe interessant abwandeln. Ich kenne einen solchen Fall:

Durch erfolgreiches Spicken in der Prüfungsklausur erhielt die Arbeit die Bestnote, was dem Schüler eine überraschende Nachprüfung eintrug. Damals kamen mündliche Prüfungen unangekündigt auf einen zu. In diesem Fall korrigierte sie den Erfolg wieder nach unten und verhinderte die gewünschte Prüfung in einem anderen Fach.

Ein weiterer Aspekt wird vergessen: die Psychologie, genauer das jeweilige  Persönlichkeitsprofil. Mit dem Freund war ich darin einer Meinung: Wir fanden Spicker ungemein beruhigend. Wir hatten uns in Prüfungssituationen einfach sicherer gefühlt, auch wenn wir sie gar nicht benutzen mussten. Elaborierte „Spickzettel“ können also ein Abfallprodukt ernsthafter Vorbereitung sein.

Wer aber gern springt, den Kitzel genießt, wird sich nach seiner Vorbereitung selbstbewusst ins Abenteuer stürzen oder aber im Moment der Not zu einem Strohhalm greifen: zur Frage an den Nebenmann, zu seinem Blatt, zu einem ganzen Lehrbuch oder einem Wörterbuch….

Laut Ausstellungstafel kämmt die pädagogische Forschung das Material bereits unter allen möglichen Fragestellungen durch, aber davon kommt in der populären Präsentation hier nichts an.

Apropos „populär“? Wozu soll es gut sein, wenn Schulklassen gemeinsam mit ihrem Lehrer hingehen? Zu einem Gesprächsanlass? Als interessantes Ziel für einen Ausflug? Der Kollateralschaden ist der übliche: ein Phänomen augenzwinkernd gesellschaftsfähig zu machen. Ich warte jetzt auf die Ausstellungen zur Steuerhinterziehung, zu Versicherungsbetrug, Ideenklau, Ladendiebstahl und Fremdgehen. Ach, es gäbe so viele Themen! Von zwei kleinen Jungs höre ich in der Ausstellung eine weitsichtige Bemerkung: „Man müsste einen Geldschein fälschen“. Die gut sichtbare Meinungstafel bleibt freilich leer.

Ein letztes Wort eines ehemaligen Lehrers vor der langen Tischvitrine: Ich sah den ganzen Schulstoff vor mir, wie wenn er ausgekotzt wäre! Doch hat der denn Besseres verdient? Spickzettel reichen tief in die Schulmisere hinein.

Feldfoto (Detail):

IMG_3596Spicker

 

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