Briefwechsel über ‚Vogelflüge‘

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From: „Dirk Schulz“-  Subject: Lesen am Kap  – Date: Sun, 7 Feb 2010 21:48:53 +0200

Lieber Detlev, (…..) lese ich zur Zeit in Flussers Essays „Vogelflüge“. Mir gefällt, wie er schreibt und wie er, ausgehend von Alltagsphänomenen, seine Denkkreise zieht, sie erweitert, sich berühren und schneiden lässt. Ehrlich gesagt springe ich von Titel zu Titel, kreuz und quer, habe mit dem Essay „Regen“ begonnen und „Wege“ gelesen, danach „Vögel“, „Wunder“. Ich bin begeistert von seinem Blick auf die Kultur und wie er sie als Gegenpol zur Natur betrachtet. Zwei Gegenwelten, die sich durchdringen. Der Mensch dazwischen mit seinen Träumen und Wünschen, als Kulturschaffender. Die Denkfigur zu den verlorenen Träumen in „Vögel“ wird mich wohl noch ein wenig beschäftigen: „Was uns bleibt, ist der unmögliche Wunsch, Unmögliches zu wünschen.“   Grüße Dirk

 

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To: „Dirk Schulz“  – Subject: Re: AW: Lesen am Kap – REGEN – Date: Sun, 28 Feb 2010 22:47:26 +0200

Lieber Dirk, (…) ich hatte ein paar Bücher mit auf der Insel und kam auch zum Lesen. Dabei waren wir täglich mehr als drei Stunden draußen in der Natur. Vier Tage schien die Sonne und beleuchtete ein immer anderes Naturwunder: die vereiste Nordsee, mit Eisschollen, arktischen Eiswällen am Strand und dahinter eine riesige Fläche, der Kniepsand, der, wie du weiß bis zu einem Kilometer breit ist. Die Reise war lang, elf Stunden, davon Hamburg-Amrum mehr als sechs Stunden; die Umstände lange nicht sicher, weil Fähren ausfielen. Auch in Google-Maps sieht Amrum reizend aus.

 

                                                   Regen

17.2.10, Amrum. Ich lese „Regen“ – aus dem Brasilianischen von Edith!   Also vor 1971 geschrieben! Da mir bei der Lektüre schwindlig wird, verfasse ich dies Protokoll.

Thema sind zwei Pole und ein Zwischenreich – die moderne Technik – werden in den Blick genommen, zuerst – – der Gegensatz zur Natur mit dem Ziel ihrer Kontrolle, naheliegend unter dem Gesichtspunkt der Behaglichkeit. Der im Trockenen an der Pfeife ziehende, den Regen betrachtende Philosoph empfindet das Ungenügen des technokratischen Programms, sobald er an deren zweifelhafte Errungenschaften denkt. Das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber „den spielenden und sinnlos kreisenden“ Naturkräften, hat sich auf die kulturelle Situation übertragen, nämlich „pausenlos einem strömenden, programmierten Regen ausgesetzt (zu) sein“. Den Ausdruck berieselt  verbinde ich spontan mit Lärm, genauer mit einer technischen Beschallung. Dann fällt mir eine Flut bedruckten Papiers und elektronischer Bilder ein, schließlich die Flut der programmierten Impulse, Angebote, Appelle, Einladungen und Optionen. Klar gehört auch die in den Städten allgegenwärtige künstliche Beleuchtung dazu. Auch der Text mündet in das Wort berieselt. Gegen diese üblen Aussichten lässt der Philosoph ein Gegenprogramm der „Freiheit“ anklingen. Sein entsprechendes Engagement lautet: „verkünden, dass man uns berieselt“. Dessen Kriterium: das Gebiet der Empfindungen, z.B. „beschützt zu sein“ zu erweitern und das neutrale, aber potentiell gefährliche Gebiet der Technologie dem Räsonnement, dem Werturteil, dem freien Gespräch, kurz: „der menschlichen Würde“ zugänglich zu machen und zu unterwerfen. Der „Kampf gegen die Natur“ scheint als Notwendigkeit gegenüber dieser Aufgabe in den Hintergrund zu treten, weil diese heute sichtlich einfacher geworden sei , einfacher im Rahmen einer Gesellschaft, die von technologischen Programmen beherrscht werde.

Auf den Spuren seiner Rhetorik frage ich mich: Was ist an diesem Gedankengang phänomenologisch, was einfach didaktisch? – Flusser holt den Leser beim „Gefühl der Geborgenheit“ ab, einer vertrauten Situation, und führt sogleich mit dem Gegensatz „draußen“ – drinnen den hochabstrakten Begriff „Kultur“ ein. Kultur bedeute, „Die Natur aus der Distanz betrachten zu können.“, ursprünglich in der Situation eines weit unmittelbareren Ausgesetztseins und Ohnmachtsgefühls. Flusser erwähnt die Bewässerung als eine uralte und komplexe Kulturtechnik. Dann springt er unerwartet in die Zukunft: Natürlicher und programmierter Regen vom Fenster „würden sich in nichts“ unterscheiden. Ich denke da eher an ausgereiftes digitales Kino. Er fährt ja auch fort: „Beim Ansehen der Dinge kann ich nicht zwischen Kultur und Natur unterscheiden.“ Nur wenn ich lernen würde, was die Dinge sind, könne ich überhaupt unterscheiden, aber nicht, wenn ich mich dem Bild distanzlos hingebe, sagt er weiter. Er ist für seinen Scharfsinn und seine Vorstellungskraft berühmt.

Draußen regnet es und drinnen grübelt Flusser. Grübelt er oder lässt er nicht einfach die Gedanken schweifen? Entwickelt er Variationen über Themen, die ihn gerade beschäftigen? Tagträume? Später wird er etwa in „Für eine Philosophie der Fotografie“ den neuen Bilder-Analphabetismus beschreiben. Was ist „Regen im Fenster“ anderes als ein Bild? „Ich brauche die anderen, damit sie es mir sagen“, nämlich „was davon Kultur und was Natur ist“, sagt er jetzt. Das will er als Antwort nicht akzeptieren: „Wenn das so wäre, hätte ich kein eigenes Kriterium für ein Engagement.

Er wählt ein gewagtes Beispiel „die Französische Revolution“. Sie sei „laut der Erklärung der einen ein historisches Phänomen“ – ich würde vielleicht ergänzen: sie begründet einer Geschichte linearen menschlichen Fortschritts zum Besseren – „laut der anderen ein natürliches Phänomen“, das selbstverständlich kein Engagement lohne, geschweige denn eines mit tödlichem Ausgang.  „Diejenigen, die sich für die Revolution engagiert haben und für sie gestorben sind, sind aus Naivität gestorben.“ Doch warum „naiv“? – Die an der Revolution Engagierten hätten „nicht alle ihnen zur Verfügung stehenden Informationen eingeholt!“ Das ist leicht gesagt! Stellte Flusser in seinem Essay „Schachspiel“ nicht fest, dass wir immer von anderen lernen müssen? Spielt er uns in „Regen“ seine Überheblichkeit nur vor?

Überhaupt Engagement! Am Ende seines großen Brasilien-Abenteuers, nach der schmerzhaften Ablösung von dem Großprojekt einer neuen Heimat, wird er Engagement auf seinen jeweiligen Nächsten begrenzen. („Von der Freiheit des Migranten)“,1994-2013, S.26)

Zitat aus einem Interview aus dem Jahr 1991:

Patrik Tschudin: Sie haben gestern gesagt, daß jeder anständige Mensch Anarchist sein muß.

Vilem Flusser: Das ist eine Art, vom Tod der Politik zu sprechen. An-archie heißt doch Un-Politik. jeder anständige Mensch müßte es ablehnen, sich mit einem System oder mit ein, zwei Systemen zu identifizieren und er müßte seine Würde darin sehen, zu verschiedenen Gelegenheiten an verschiedenen Systemen vorübergehend mitzuarbeiten.

Flusser räsonniert im Trockenen, im Salon. Die häusliche Terrasse in Sao Paulo ist jedenfalls nicht weit. Eine „frei diskutierte Anwendung des Regens“ erscheint mir als Idee ziemlich abgehoben, vergleichbar etwa der Vorstellung, sich im Cockpit von Apparaten zu befinden und automatisierte Entscheidungsprozesse zu programmieren. Auch das steht in dem Interview mit Tschudin.

War die Glosse feuilletonistisches Feuerwerk für Sao Paulos Bürgertum? Ich wüsste gern, wo sie erschienen ist.  Für gewöhnliche Menschen hat die Ohnmacht gegenüber der Natur nie aufgehört. Und wir werden von beiden Seiten her, von den Naturkräften und der Technologie, immer stärker bedrängt und eingezwängt. Davon handelt der Text: Vom Regen durchnässt, wirst du dich drinnen wieder trocknen. Doch eine Berieselung hält bestimmungsgemäß ständig feucht oder in Dauerspannung – typisch für die Konsumkultur. Also vom Regen wohin? Zur Dauerberieselung. Vom Regen in die Traufe. Volksweisheit. Der Klappentext des Buches spricht von ‚Denkbildern‘. Walter Benjamin soll den Begriff geprägt haben. Denkbilder sind die Sprachbilder, die bildhaften Prägungen traditioneller Alltagssprache, deren Erfahrungsgehalt uns gelegentlich aufblitzt.

So, das war’s. Jetzt am Freitagabend  versieht die bevorstehende Abreise alles mit einer gewissen Unruhe. Zehn Stunden Fähre und Bahn durch durch einen tückisch angetauten Spätwinter. Doch hier auf Amrum war er noch einmal vier Tage sehr schön, knackig und weiß. Herzlichen Gruß     Detlev.

 

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From: „Dirk Schulz“ – Subject: AW: AW: Lesen am Kap  REGEN – Date: Sun, 28 Feb 2010 22:47:26 +0200

Lieber Detlev, vielen Dank für deinen Brief und deine Gedanken zu Flusser. Ich hoffe, ich kann dir demnächst ausführlich darauf antworten. A… war 10 Tage in Deutschland und ich musste hier den Haushalt, die Schule usw. regeln. Da war nicht viel mit lesen. Dieses Wochenende haben wir mal genutzt und sind ein Stück die Westcoast hochgefahren nach Langebaan – eine vorgelagerte Lagune mit herrlich türkisblauem Wasser, das angenehme Temperaturen zum Baden hatte (mehr als die 16°C Atlantik hier in Kapstadt!). Ein Tag zum Ausspannen und Relaxen, 30°C warm, zu warm für Flusser, leider. Heute stieg das Thermometer noch einmal um 6°C, ein heißer Sommertag ohne Wind, was auch hier selten vorkommt. Ein bisschen Kraft habe ich also für die kommende Woche gesammelt, die mal wieder Arbeit verspricht. (…)

 

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From: „Dirk Schulz“ – Subject: AW: AW: Lesen am Kap REGEN – Date: Tue, 13 Apr 2010 22:00:02 +0200

Lieber Detlev, meine Gedanken schweifen ab, wenn ich Flusser lese, wahrscheinlich, weil ich (noch) zu wenig vertraut mit ihm bin. Mir gefällt es grundsätzlich, wie unsystematisch er in den Essays vorgeht, aber das macht es natürlich schwierig, seiner Phänomenologie zu folgen. Vielleicht bin ich zu sehr Germanist, aber meine allererste Reaktion auf seine Texte ist die auf seine Art zu schreiben. Hier ein paar Notizen, die ich mir auf dem Rückflug von Mauritius im Flugzeug machte:

Als erstes spüre ich, dass mich die Flusser-Texte an-sprechen (tatsächlich sprechen die Texte zu mir als Lesendem); es mag der Stil sein, in dem sie verfasst, niedergeschrieben sind. Essays allesamt, die niemals abgeschlossen oder gar „rund“ sind. Es ist gerade ihre Offenheit, die sie interessant macht, sie sind Gedankenexperimente, aber auch Schreibexperimente, wie mir scheint (so verstehe ich auch das Nachwort Flussers zu den Texten, das ich aber erst später las…). Manchmal im Heideggerschen Stil, sind sie der Versuch, im Schreiben das Wesen, das Sein (ontos) der Dinge offen zu legen (die „Zedernheit“, das „Berghafte“ usf.) Flusser macht dies bisweilen sehr maniriert. Das Schreiben dient ihm dazu, den Dualismus von Subjekt und Objekt aufzuheben. Zentral dafür steht wohl der Essay „Die Zeder“, wo er explizit immer wieder auf die Aristotelischen Kategorien zu sprechen kommt, in denen unser philosophisches Denken gefangen ist. Der Essay versucht, glaube ich, diese Kategorien wenn nicht aufzuheben, so sie doch anzugreifen, nein, falsch, sie aufzulösen. Dies macht Flusser ganz geschickt durch seinen Stil, dem wir staunend und manchmal verwirrt folgen, der  einerseits sehr subjektiv ist, andererseits aber den Lesenden einfängt, sodass wir als Lesende  Teil seiner Denkzirkel – und fast schon Teil seiner philosophischen Zwischenwelt werden, in der die Dinge, vielmehr ist es meist ja die Natu,r zu uns sprechen. Sie sprechen  natürlich nicht, aber wir hören es von irgendwo rauschen. Eine mythische Welt? Nein, es ist unsere technische Welt, unsere Kultur. Wohltuend aber ist, dass Flusser nie von einer Entfremdung spricht, sondern uns dazwischen sieht. Wir können Natur nurmehr als Kultur wahrnehmen. Gleichzeitig wird aber Kultur unsere Natur. (Oder habe ich das nicht richtig verstanden?) Auch deshalb kann der Berg, kann die Zeder uns nichts von ihrem Sein erzählen. Wir können horchen, wir können genau hinhören, sind aber immer auf uns zurückgeworfen. Und diese Spannung scheint mir der Motor seines Schreibens zu sein. Es geht darum, den Blick zu schärfen, sich seiner Perspektive auf die Welt bewusst zu werden. Wie gesagt, Flusser ist sich immer selbst darüber im Klaren, dass es unmöglich geworden ist, das Wesen der Natur zu durchdringen. (Heidegger hat ja Ähnliches versucht, auch durch eine ganz eigene Art zu schreiben.) Also ist Flussers Schreiben immer ein Schreiben am Rande, am Rande des Erfahrbaren, des Denkbaren, des Sichtbaren, letztlich auch des Schreibbaren (ein Paradox?). Schreiben schafft Distanz im doppelten Sinne und dies gerade für den Philosophen (den Denkenden): Im Schreiben vollziehe ich schon Kultur. Um mich ganz auf das Wesen eines Objektes oder der Natur einzulassen, dürfte ich wohl gar nicht schreiben. (?) Die Reflextion, gerade die schreibende Reflexion, ist eine Brechung. Flussers Texte sind Grenzgänge an zentralem Denkpunkt, am Brennpunkt – um im Bild zu bleiben, am Punkt  wo sich das Denken bricht.…

 So, das ist alles noch ganz ungeordnet und bedarf noch einer Schärfung. Ich hoffe, du kannst damit etwas anfangen. Du bist schon etwas weiter und kannst die Bildsprache Flussers besser lesen, vor allem im Kontext seiner Philosophie verstehen. Auch merke ich, dass ich erst wieder ins Schreiben kommen muss, denn das kommt die letzten Monate (Jahre) bei mir viel zu kurz…

Ich habe mal versucht, ganz im Flusserschen Sinne, etwas Ähnliches zu machen wie er. Sicher, seine Auswahl ist nicht willkürlich, aber mir scheint, seine Methode ganz gut auf jedwede Alltagssituation anwendbar zu sein. Man lasse sich ganz in etwas fallen und lässt die Dinge zu sich sprechen. Im Schreiben erst entwickelt sich eine Denkrichtung und der Gegenstand eines solchen Essays gewinnt erst im Laufe seiner Entstehung an Schärfe. Abgesehen davon ist seine Perspektive interessant. Oft sitzt er in seinem Haus und blickt heraus, durch das Fenster, durch einen Rahmen, sieht also nur einen Ausschnitt. Hier also mein Versuch (der Anfang):

 

                               Flughäfen, unwirkliche Orte

 Flughäfen entziehen sich der Realität, sie entziehen sich ihrer geografischen Bestimmung. Natürlich weiß ich, wo ich bin, wenn ich beispielsweise in einem Cafe sitze und meinen Espresso trinke. Jeder wird mir auch auf einer Karte den genauen Ort kennzeichnen und zeigen können oder mir die exakten GPS-Koordinaten sagen können. (Dies kann mittlerweile auch jedes iPhone.) Aber auch niemand wird leugnen, dass Flughäfen Zwischenorte, Nicht-Orte sind. Mir geht es hierbei vielmehr um das Wie und nicht um das Wo meines Aufenthaltes. Diese Modalität meines Seins ist an einem Ort wie z. B. dem Oliver-Tambo-Airport Johannesburg ist eine andere als an anderen Orten auf der Welt. Ich denke dabei an den Garten oder ein Zimmer meines Hauses oder auch einer Straße, auf der ich gehe. Die Frage ist, ob zu einer exakten Bestimmung meines Daseins an einem Ort neben der Lokalität auch die Modalität eines Ortes dazukommen muss. An Flughäfen wird dieser Unterschied  besonders spürbar, weil besonders sie Orte des Nicht-Aufenthaltes sind, wo man nicht nur ankommt, sondern immer auch weiter geht…

 Na ja, alles etwas unausgegoren, auch dieser Text ist während meines Fluges entstanden und war nur ein Versuch. Aber ich merkte z. B., dass mich das Schreiben woanders hintreibt. Der Gedanke von Modalität/Lokalität hat sich erst ergeben und würde tragend werden. Mir scheint es jedenfalls so, dass auch Flusser nicht immer weiß, wohin ihn seine Gedanken treiben, weshalb seine Texte auch unheimlich dialogisch geschrieben sind.     So long, Dirk…

 

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 To: „Dirk Schulz“ – Subject: Re: AW: AW: Lesen am Kap REGEN – Date: 26 Apr 2010

Lieber Dirk, nun ist auch die Postkarte eingetroffen mit der großen Korallen-Lagune. Ein Bild – fremd wie von einem anderen Planeten, so total eingespannt sind wir gerade: Wohnungssuche abgeblasen, nun Handwerker und Vermietung. (….)

Habe ich dir schon geschrieben, dass mich deine Texte unbändig gefreut haben.  Da ich „Zedern im Park“ selber noch nicht gelesen hatte, kombinierte ich erst einmal Lektüre mit Notizen, die leider auf deine Äußerungen nur an ein paar Stellen und eher indirekt eingehen. An ein paar Stellen sind wir uns im Urteil sehr nah. – Vielleicht ist das ja auch besser so, da jeder seinen Weg durch das Dickicht finden muss. Das selber Entdecken war mir lange der größte Reiz an Flusser. Freilich kommt man ihm mit der Zeit auf die Schliche. Der Zaubergarten sollte sich nicht zu schnell und nicht restlos in einen Französischen Park, voller geometrisch konstruierter Verweise verwandeln. Natürlich hat steuert ihn in der Tiefe ein persönliches Konzept, das er umkreist und umschreibt, weil er es nicht über Jahrzehnte nicht systematisch zu fassen bekommt. Doch sollen wir Leser sowieso in Bewegung bleiben, so wie Flusser es uns vormacht. – Ich hoffe dir ein paar Durchblicke und Anregungen zu geben. Für Fragen bin ich immer dankbar. Die verstünde ich als Aufgaben. – Ich lese also meinen Kommentar noch einmal durch und drucke ihn unten ab. Zu seinem  Nachwort bin ich übrigens immer noch nicht gekommen.

 

                      Flusser der Verführer – zu „Zeder im Park“

Auch ich schaue erst einmal, „wie er schreibt“! Denn ein solcher Blick gibt dann eine Menge zu denken. Er beginnt mit der Aura des Baumes, sucht die Annäherung an Empfindungen über paradoxe Feststellungen, verfolgt die Absicht der Sensibilisierung gegenüber dem „ganzen Baum“. Ihr dient auch der Hinweis auf das  gewöhnlich vergessene Wurzelwerk. Dann folgen geistreiche Abschweifungen über den Baum als „Modell“(38) im 19.Jh. – vgl. die interessante DVD „Die wunderbare Artenvielfalt“! habe ich sie dir bereits geschickt? – Die unser Bild vernebelnde Aura differenziert sich in  „Phantome“ aus: solche des mythischen Zeitalters und solche des 20.Jh.: der Biologie, Psychologie und Anthropologie, Existenzphilosophie …. allesamt Vorurteile und schon viel uralter Ballast, manche mit der Illusion verknüpft, das Wesen des Baums, die Baumheit, die Essenz zu erschleichen. Ich meine aber, dass Flusser den Leser als Pädagoge nur abholt bei seinen jeweiligen Vorurteilen. Er kannte aber auch Heideggers Werk.

Warum Verführer? Er scheint auf uns alle einzugehen und bietet – harmlos tuend – an, diese Ansichten bloß mal „in Anführungszeichen“ zu setzen, „um provisorisch beseitigt zu werden“, mal gerade beiseite zu stellen, damit sie nicht stören, wie man so sagt: Lassen wir das fürs erste dahingestellt. Er stellt gerade dies als die phänomenologische Methode (im Text „Schachspiel“ exemplifiziert) vor. Verführung durch ein Wechselbad von wenig Provokation und viel Beruhigung, Spannung, Neugier erzeugen, etwas Verwirrung erzeugen, unauffällig Markierungen setzen, die erst vom Ende her bedeutsam werden, damit der Fluss der Darstellung nicht gestört wird. Flusser schreibt zum Beispiel: „nicht versuchen, die Essenz der Zeder in meinem Park zu erfassen“.

Was kann daran Essenz sein außer das Parfum eines fremden Klimas das sie ausstrahlt? Des Kaisers neues Parfum? Wir werden weniger auf uns zurückgeworfen (Dirk) als sacht zurückgelenkt (39) auf die Bedingungen unseres In-der-Welt-Seins. Wenn ich die phänomenologische Methode richtig verstanden habe, ist dieses Horchen, Hinhören und Schreiben am Rande Methode. Ontologie ist nicht angezielt, wenigstens nicht direkt. Den „Dualismus von Subjekt und Objekt“ lässt sie hinter sich, unaufgelöst, eingeklammert.

Dass das Ergebnis nicht beliebige Rhetorik, reine Schaumschlägerei ist (oder ?), das spüren wir erst mal nur. Doch Etikettenschwindel lässt sich an mancher Stelle nicht leugnen, aber die Etiketten lassen sich bei weiterer Bewegung ja einklammern. Kein Destruktivismus, viel feiner!

…. und – wir werden besonders zurückgelenkt auf ein flussersches Standardthema, unser seltsam und fremd Sein in der Welt, das der mehrfache Emigrant besonders tief empfunden hat. Es hat ihn anfänglich in Brasilien bis an den Rand des Selbstmords getrieben, wie aus Lebenserinnerungen zu erfahren ist.

Kann das Gemeinsame unseres In-der-Welt-Seins nicht die Basis für einen intuitiven Einblick sein?“ (39) – Ich denke spontan an gestern Nachmittag, als ich mit Sohn Karl seine Schopenhauer-Hausarbeit diskutierte. Darin geht es zum Beispiel um die sattsam bekannte „Unerkennbarkeit des Ding an sich“. Ich zitiere/kopiere ihn mal ganz wurschtig:

Schopenhauer stimmt Kant zunächst darin zu, dass dieses Ding an sich schlechthin unerkennbar ist und es demzufolge keine Möglichkeit für metaphysische, sondern bloß für immanente Erkenntnis gibt. 

„Nun aber habe ich, als Gegengewicht dieser Wahrheit, jene andere hervorgehoben, daß wir nicht bloß das ERKENNENDE SUBJEKT sind, sondern andererseits auch […] SELBST DAS DING AN SICH SIND; daß mithin zu jenem selbsteigenen und inneren Wesen der Dinge, bis zu welchem wir von AUSSEN nicht dringen können, uns ein Weg von INNEN offen steht, gleichsam ein unterirdischer Gang, eine geheime Verbindung, die uns […] mit einem Male in die Festung versetzt, welche durch Angriff von außen zu nehmen unmöglich war. […] – In der That ist unser WOLLEN die einzige Gelegenheit, die wir haben, irgend einen sich äußerlich darstellenden Vorgang zugleich aus seinem Innern zu verstehen“.  (Zitate aus „Die Welt als Wille und Vorstellung“)

Was mich darauf bringt, ist eine Parallele: Wir seien das Ding an sich und hätten damit einen unterirdischen Gang zum inneren Wesen der Dinge, sagt Schopenhauer. Bei Flusser konkretisiert und vielleicht reduziert sich diese Gewissheit auf die Vermutung, im „Gemeinsame(n) unseres In-der-Welt-Seins (…) die Basis für einen intuitiven Einblick“ zu finden. „Vermenschlichung“ steht schon als Warnschild daneben – und wird ignoriert. Letztlich ist nur dies unser In-der-Welt-Sein fassbar. Die Zeder ist eine Metapher, fast schon eine allegorische Gestalt und zwar als schöne Fremde aus dem Libanon, aus Asien. Flussers Beschreibung ist die eines Verliebten. „Die Zeder im Park“ ist eine verdeckte Liebesgeschichte, zumindest eine Beziehungsgeschichte. Der Text wirkt so spekulativ wie die Grübeleien eines Verliebten, dem die Angebetete nicht antwortet, vielleicht weil er sie noch gar nicht real angesprochen hat. – Die hier gestellten Fragen sind für mich zu stark  rhetorisch parfümiert. Etwa: „Sagt mir die Zeder, dass sie eine Fremde ist?“ Ich erfahre sie als fremd im Park, warum?  Die Fremde wird als sich selbst treu bestimmt(40). Warum sollte die Fremde auch sich selbst fremd sein, bloß weil sie „im Verhältnis zum Park eine Fremde“ ist? (40) Lass‘ mich mit Karl Valentin kurzschließen: „ Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“.

Nachdem Flusser die naheliegende quantifizierbare Antwort (41) – Mehrheit/Minderheit – zurück zieht und sogar den heimischen, gebürtigen Nussbaum in seinem Heimatrecht problematisiert, wenn er ihm auch listig bescheinigt, „ganz Anjou, ganz Frankreich stehen in der Aura des Nussbaums“, (41) streicht er die beherrschende Einzigartigkeit, die provokative Sonderstellung der Zeder heraus – scheinbar ganz wie es hierzulande die grün-alternative Rhetorik es tut! Jedenfalls wird selbst hier im Park die vitale Dialektik zwischen Migrant und Ureinwohner unterstrichen.

Im Aufsatz „Exil und Kreativität“  schreibt Flusser: „Der Vertriebene ist der andere der andern.(…) Diese dialogische Stimmung, die das Exil kennzeichnet, ist nicht notwendigerweise ein gegenseitiges Anerkennen, sondern sie ist meist polemisch (um nicht zu sagen mörderisch). Denn der Vertriebene bedroht die „Eigenart“ des Ureinwohners, er stellt sie durch seine Fremdheit in Frage. Aber selbst so ein polemischer Dialog ist schöpferisch, denn auch er führt zur Synthese neuer Informationen.“ („Von der Freiheit des Migranten“, S.109)

Der Aufsatz „Die Zeder im Park“ gibt ein weiteres Beispiel dafür. Übrigens hat man sie ja eigens zu einem solchen „schöpferischen Dialog“ gepflanzt. Solche gelungenen (englischen) Parks und botanische Gärten sind also ein Modell gelungener Integration von Fremden, was immer Flusser davon halten mag.

Flusser hat in seinen Essays ein paar Themen immer wiederholt und dabei immer wieder abgewandelt. Eins ist das die wirkliche Erfahrung der Migration – auch für die Ureinwohner, denen ihre eigene Heimat fremd wird, ein zweites das der Unübersetzbarkeit von Sprachen, ein drittes die medienkritische und futuristische. Mehr Themen?

Die ersten beiden lassen sich durch wiederholte phänomenologische Expeditionen  von verschiedenen Ausgangspunkten aus ganz unsystematisch erschließen. Es entstehen im Kopf  Karten und ein Lexikon der relevanten Termini seiner feuilletonistisch aufgemachten Glossen und Essays.  Das letzte Thema ab den 1970er Jahren hat ist er viel systematischer angegangen

Hier brechen die Notizen ab. Fragen? Bemerkungen? Einwände? Lass‘ dir Zeit. Das kleine Päckchen schicke ich noch diese Woche. Wie geht’s deinem Film?   Alles Gute Detlev

 

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 To: „Dirk Schulz“ – Subject: Hey, Dirk!!! – Date: Mon, 5 Jul 2010 00:01:10 +0200

Jetzt wirds aber Zeit, Dirk! Soll ich dich etwa im Stadion bei der öden Eröffnungsfeier suchen? Von wo wirst du mir zuwinken? So haben wir nicht gewettet: Schreiben ist eins, aber dich melden ist etwas anderes. Natürlich sprudelt ARTE nur so von Südafrika-Berichten, aber ich ignoriere sie souverän. Für dich nehme ich schon gar nichts auf!

In Wirklichkeit schwirrt mir selber der Kopf. Seit die Wohnung renoviert und vermietet ist,  fallen alle intellektuellen „Optionen“, die ich im Zuge der Erweiterung des Kellers aus ihrer Verborgenheit befreit habe, über mich her. Zudem höre ich jeden Montag zwei Stunden lang eine Gastvorlesung auf dem Campus Westend über „Kult und Kunst“, die das Zentrum meiner Interessen aufrührt und die ich für meine Begriffe diszipliniert nacharbeite. Alle zehn Seiten schreibe ich auch das Wort „Flusser“ in meine Kommentare. Jetzt ist auch noch der Sommer über uns hereingebrochen: Wir sitzen am Abend ohne Socken auf dem Balkon. Unsere intern beleuchteten Laptops küssen einander. Jetzt bist du dran! Habt ihr etwa den Film in „afrikanischer“ Schludrigkeit noch nicht fertig gestellt?    Gruß – an die ganze Familie!      Detlev

 

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From: „Dirk Schulz“ – Subject: AW: Hey, Dirk!!! – Date: Mon, 5 Jul 2010 00:10:18 +0200

Lieber Detlev, ich antworte dir auf deine erste Email, denn die bietet mir gleich einen Aufhänger. Tatsächlich hättest du mich gestern während des historischen Spiels der deutschen Fußballnationalschaft gegen Argentinien im Stadion entdecken können, wenn die Kameras hinter das argentinische Tor gerichtet waren. Da saßen wir, die ganze Familie, und haben in der zweiten Halbzeit dreimal das Leder ins Netz fliegen sehen. (…) Dass du erst jetzt von mir hörst, liegt aber nicht daran, dass ich nichts anderes mehr als Fußball im Kopf habe. An der Schule waren die letzten Wochen vor unseren langen Winter-WM-Ferien sehr anstrengend und arbeitsintensiv. Viel Korrekturen, Noten geben, eintragen, Formalia erledigen, Konferenzen, du weißt noch, wie solche Tage verlaufen. – Und dann ging es für uns gleich auf Reisen. (…)

Text: Vogelflüge – Essays zu Natur und Kultur. Edition Akzente Hanser 2000

FINE

 

 

 

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