D.H. (Mail vom 24.10.2012)
„…. Mich würde jedoch interessieren, wo und wie die Ethik bei Flusser wirklich aufscheint. Was ist Flussers Ethik? Hätten Sie Lust mit mir darüber ein paar Ideen auszutauschen? Meine Antworten werden zwar manchmal etwas dauern, aber es würde mich trotzdem freuen.“
dvg. (Mail vom 14.11.2012)
(…) Sehr gern, aber ich vermute, es wird schwierig und vielleicht unergiebig wie im Bereich Kunst. Ich hatte schon in den Unterrichtszusammenhängen immer ein Auge darauf und bin zu dem Schluss gekommen: er hat keine Ethik formuliert, die den Namen verdient.
Der einzige mir bekannte einschlägige Titel ist „Ethik des Design“. Der direkten Frage verweigert er sich da ironisch, reicht sie in Form eines banalen, längst bekannten Dilemmas zurück. Hartnäckigkeit, Ernsthaftigkeit und Melancholie eines Hans Jonas („Das Prinzip Verantwortung“)sind nicht sein Fall.
Nun interessieren mich aufgrund Ihres Impulses die in seinen Texten erkennbaren moralischen Grundsätze. Dabei sollte man vermeiden, an theoretischen Sandburgen zu bauen, die der Meister mit einem Federstrich, den er bisher unerkannt irgendwo gezogen hat, einreißt. Sie haben ihn mir selbst in Ihrem Brief als clowneskes Monster geschildert: „Flusser ist oft ein krasser Ideologe, der mit seinen temporären Ideologien gegen die wahren, verbohrten Ideologen vorgeht. (Sind Sie dessen ganz sicher? Und was sind temporäre Ideologien heute? Holzschwerter?) Flusser denkt in Bildern, die uns immer wieder beleidigen, um unsere eigenen vorgefertigten und gefestigten Bilder zu zerstören und er ist daher, wie jeder grosse Künstler, ein bilderproduzierender Ikonoklast.“
Ich beginne spontan mit Bollmanns Sammelbändchen von der „Freiheit des Migranten“, das schon meinem Aufsatz zugrunde liegt. Die Glossen sowie das Interview mit Patrick Tschudin sind kantig formuliert und wurden von ihm selbst in seinen letzten Lebensjahren publiziert. Sie stehen in interessanter Koexistenz mit den kommunikologischen Essays, worin er die Post-Geschichte der Menschheit in Form der berühmten Szenarien fortschreibt.
Er hat so gut wie alle großen Begriffe ins Feld geführt, die unsere abendländische humanistische Tradition so bereit hält, insbesondere Freiheit, Engagement, Rationalität, Kultur als solche, Dialog.
Vielleicht können wir uns an denen als Bojen orientieren. Beginnen wir mit Engagement. Der Begriff erscheint in „Von der Freiheit des Migranten“ zentral, aber seine Färbung changierend.
Schauen wir uns zuerst die weitere Umgebung der flusserschen philosophischen Begriffe an, um seine Engagements zu überblicken.
Flussers Urteil über die Situation der Welt ist bemerkenswert stabil, er hat es mit einer gewissen Regelmäßigkeit bei verschiedenen Gelegenheiten wiederholt und variiert. Ich fasse zusammen:
Wir sind mitten in einer Revolution wie sie noch keine gab. Es geht ums Ganze. „Der Feind hat zu siegen nicht aufgehört“ (W.Benjamin). Sie bricht wie ein Atom-U-Boot durch das Polareis. Es herrscht Krieg, eine gigantische Verwüstung findet statt, Desertifikation. Epochenbruch. Verdacht auf „Barbarei“.
Hans Blumenberg, ein ebenso gewitzter Kopf wie VF, aber zweifellos gebildeter und souveräner, würde lächeln über den späten Sänger eines „letzten Gefechts“ auf dem Felde der Informations- und Kommunikationstechniken. Er würde christlich-jüdische Traditionsbestände identifizieren und in Flussers Endzeitstimmung einen für das 19.Jh. und 20.Jh. typischen „Sinnbedarf“ diagnostizieren. Dazu gehört ein Feindbild in zentraler Position. Blumenberg würde andererseits auf den Pluralismus unter den lebenstauglichen Ethiken hinweisen und auf glanzlose Verhaltensregeln, die sich den Verhältnissen pragmatisch und unspektakulär anpassen lassen, wie die Juristen auf neuen Rechtsgebieten es uns vormachen, und was die Natur- und Informationswissenschaften ohnehin tun. Hier steht Paul Feyerabend an meiner Seite.
Also: Revolution! Umwälzungen! Ausnahmezustand! Sozusagen ein Vorspiel gibt Flussers kurze Betrachtung über die Französische Revolution ab. An entlegener Stelle, im Kapitel „Regen“ des aus dem Nachlass publizierten Essaybandes „Vogelflüge“, urteilt er: „Diejenigen, die sich für die Revolution engagiert haben und gestorben sind, sind aus Naivität gestorben.“ (S.33)
Es sagt es aufgrund seiner scharfen Unterscheidung zwischen dem „historischen Phänomen laut der Erklärung der einen“ – dort findet sich Sinn in der Geschichte – und dem „natürlichen Phänomen laut der anderen“. In Revolutionen, so verstehe ich hier VF, muss man zunächst das eigene Leben sichern oder gar das nackte Leben retten. Naivität ist für ihn negativ, also ist es auch ein naiv eingegangenes oder beibehaltenes Engagement.
Flusser sieht das Individuum vor unvereinbare Ziele gestellt: Engagement oder Selbsterhaltung. Dafür sprechen historische Erfahrungen: Für Revolutionen typisch sind Rechtlosigkeit und Rücksichtslosigkeit. – Wir 68er haben in der westlichen Welt ja nur ein Puppenspiel aus dem Repertoire des Stalinismus und des damals zeitgenössischen kannibalischen Maoismus aufgeführt, wir wussten nichts. Wir kannten nur Erzählungen davon. – Revolutionen wie Totalitarismen sind klassische Vertreiber, wenn sie nicht einsperren oder liquidieren. Die Frage des Engagements kann zur Überlebensfrage werden. Doch geht es wirklich nur um das Überleben? VF macht es sich viel zu einfach. Zu leicht verschwindet das Engagement, ein Schlüsselbegriff in „Von der Freiheit…“ aus dem Blickfeld?
Aus seinen in „Bodenlos“ geschilderten Erfahrungen lässt sich Flussers leidenschaftliche Parteinahme für den Migranten ableiten, nicht nur für sein Existenzrecht. Er gesteht dem Migranten das moralische Recht zu, alles um sich herum zu „entwurzeln“. Auf einer Argumentationsebene billigt er auch „Ureinwohnern“, ja sogar „den Vertreibern“ in ihrer Beschränktheit – beide sind in seiner Beschreibung nicht unterscheidbar – einen Opferstatus zu. Man könnte also an Schopenhauers Diktum von den gequälten Quälern denken, doch nicht wirklich: Dem „Ureinwohner“ der bestehenden Institutionen begegnet er durchgängig abwertend und sarkastisch. Gegen ihn macht er Stimmung. VF hat Heimat- und Familienbindung mit den intellektuellen Mitteln des 19.Jh. entwertet, als unzeitgemäß, als Reaktionsbildung, reaktionär, als sentimental. Das war in meiner Generation noch eine tödliche Waffe. Manchem meiner späteren Schüler ging das bereits zu weit. – Ich breche hier ab, dahinter ist die Baustelle noch zu unaufgeräumt.
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Der Rest des Gedankengangs, nur ein wenig aufgeräumt, 30.12.12
Zwei Ausnahmezustände treffen für Flusser zusammen: der individuelle des Vertriebenen, der zum Revolutionär wird und der einer globalen Entwurzelung der Menschheit nach Auschwitz, in deren Rahmen sich der manifest Vertriebene vom Abschaum zur Avantgarde entwickelt. Sein Schicksal ist das Menetekel an der Wand für alle. Flusser legt es aus, will die Menschheit warnen, verzweifelt wie Benjamins Engel der Geschichte. Das wäre die pathetische Variante seiner Geschichte.
Ich vermag nicht eindeutig zu entscheiden, ob Flusser sich nicht doch mit der revolutionären Sache – der digitalen Revolution – gemein macht, das heißt, sie unterstützt. In diesem Fall sind wir bei den bekannten funktionalen Kriterien der Ethik: Was nützt dem Projekt, was ist zielführend, verspricht Erfolg?
Er redet den Opfern der Revolution ein, sie sollten ihre bereits durchlöcherten Häuser ganz niederreißen. Die Zumutung, als bloßer Knoten im digitalen Netz zu leben, sei alternativlos, ohne menschcnwürdige Alternative. Flusser ist bekanntlich ein Begriffs-Vernichter. Seine echte Treue hat etwas von ‚kreativer’ Zerstörung oder treulosem Verlassen. Engagement und Nächstenliebe werden schlüpfrig, in der Theorie um der Freiheit willen. VF kann heute als Ahnenfigur des „Transhumanismus“ figurieren, wie mir ein wenig googeln zeigt. Ein Teil der Flusser community tut alles dafür, dass er so wahrgenommen wird. Sein Menschenbild ist der bindungslos nomadisierende Egozentriker, was seine lebenslange existenzielle Unruhe spiegeln mag, aber Ethik?
Flusser bietet auch das Bild eines Untergrundkämpfers, Partisanen, der Laus im Pelz des Apparats. Muss man ihn als Doppelagenten ansehen?
Niemand kann ihm wirklich trauen? Wozu auch, aber so unsichere Kantonisten sind auch bei Revolutionären oder ihren Funktionären nicht beliebt, man entledigt sich ihrer bei der nächsten Gelegenheit. Zwischen den Stühlen! Aber wozu sonst sollte sich den Vilém Flusser irgendwann setzen, als um wieder „entsetzt zu werden“!
Moralische Grundsätze finden sich bei ihm wie bei jedem Menschen. Er lässt seine obersten Prinzipien allenthalben durchblicken.
Der „mörderische Dialog“ zwischen dem Vertriebenen und den Bewohnern des Asyllandes kann immerhin auch als Element deskriptiver Ethik gelten: Wenn, dann.
Doch eine solche Ethik des Ausnahmezustands? Die hat er wohl lieber nicht geschrieben. Für eine Ethik als wissenschaftliche Beschreibung und Analyse, nicht von Emotionen und Interessen gesteuert, fehlte ihm die Geduld, die innere Ruhe.