Blumenberg nach Lewitscharoff

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So geht das nicht weiter: Ich gerate ins Stottern, wenn ich etwas Sinnvolles über Hans Blumenberg sagen will und soll. Vielleicht hilft mir der Umweg über diese Handreichung zu Sibylle Lewitscharoffs Blumenberg.

Wir treffen Blumenberg in der für ihn typischen Situation, mit Kassette und Diktiergerät, doch genau in dem Moment, wo sie entgleist. Dieses Entgleisen öffnet sogleich den geistigen inneren Raum, der für andere Menschen eine Welt der Chimären, der Einbildungen, ja Trugbilder sein muss. Über die thrakische Magd hat WB eigens ein Buch geschrieben.

SL hat sich listig eingeschlichen, wo eine TV-Dokumentation vor Jahren ratlos draußen vor wuchtigen Kulissen stand. Wacher Beobachtung erschließt sich, was auch im damals ersehnten Interview verborgen geblieben wäre. Denn als verbaler Schlagabtausch sind Interviews der Diskussion verwandt, könnte mir HB beigepflichtet haben.

Ohne die Toten wäre der Roman Blumenberg eine Komödie. Der ernste Hintergrund ist ohnehin vorhanden: Der Rückzug eines weltoffenen Menschen in eine wenn auch kultivierte Höhle.

Eine ausgerissene Zeitungsseite aus „Bilder und Zeiten“ kommt mir zur rechten Zeit in die Hände: Der Stoff, aus dem die Romanfiguren sind, allgemeine Betrachtungen von James Wood am 19.4.2008 in der FAZ. Der Autor schreibt darin:

Die Schwierigkeit besteht darin, die.. Personen aus ihrer Erstarrung zu befreien und lebendig zu machen (….)  sie überzeugend einzuführen.Dann zitiert er eine Novelle von Maupassant: ‚Er war ein Herr mit rotem Schnurrbart, der stets als Erster den Raum betrat.’ – Henry James habe damit gesagt, dass Mr.Cashmore wie ein glatzköpfiger Rotschopf aussah und dass seine verdrießlichen Bemerkungen nicht zu seiner kräftigen jovialen Gestalt passten. Er hat diese Figur in einer Weise beschrieben, wie man gewöhnlich einen lebendigen Menschen beschreibt. (….) Der Roman ist der große Virtuose auf der Klaviatur der Einzigartigkeit.

Stets entzieht er sich den ihm auferlegten Regeln. Und die Romanfigur ist der wahre Houdini (Zauberkünstler *1874) dieser Einzigartigkeit. Dann wendet er sich ins Allgemeine:

Es gibt keine Romanfigur an sich. Es gibt nur Abertausende unterschiedliche Personen, die einen rund, die andern flach, manche vielschichtig, manche Karikaturen, manche kraftvoll realistisch, manche nur mit allerfeinstem Pinselstrich angedeutet. Einige Figuren sind immerhin so deutlich, dass wir über ihre Motive spekulieren können. (…) Ich selber neige zu den eher unscharf gezeichneten Figuren, die den Leser herausfordern, sich genauer mit den Leerstellen, mit dem Ungesagten zu beschäftigen.

Manche Autoren postmoderner Romane forderten uns auf, über die Fiktionalität ihrer Helden und Heldinnen nachzudenken. (….) Muriel Spark hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, wie viel wir über andere Menschen wissen können und wie viel eine Schriftstellerin, die dieses Wissen für sich reklamiert, über ihre Figuren wissen kann. Übrigens spickt sie in Miss Brodie

ihre Geschichte mit einer Reihe von ’Flashforwards’, in denen wir erfahren, wie es mit den Figuren nach dem Kern der Handlung weitergeht. diese kühl prophetischen Passagen finden manche Leser brutal. Es sind ausgesprochen summarische Urteile.

Ward resümiert: Mit einem Roman sind wir nicht dann unzufrieden, wenn die Figuren nicht genügend lebendig oder tief sind, sondern wenn der Autor uns nicht sagt, wie wir uns auf seine Konventionen einstellen sollen, wenn er kein Interesse an seinen Figuren, an seiner ganz eigenen Realität weckt. Dann wird unsere Neugier rasch enttäuscht. Wir stellen fest, dass uns nicht genug geboten wird (….). SL lässt uns spätestens ab der Mitte über ihre Absichten nicht mehr im Unklaren. Ich selber will die Handlung nicht mehr als nötig verraten und beschränke mich in der Handreichung auf den Beginn.

Der Roman „Blumenberg“ ist Bettina Blumenberg sicher nicht nur als Informantin gewidmet. Die bereits aushäusige Tochter irgendwo in der Welt (WB) ist das unsichtbare Gegenmodell zu den vier abstürzenden studentischen Satelliten des Professors im Roman. Sie war gewiss eine ebenso kühle Beobachterin  ihres Vaters, doch früh ebenso außerhalb des Gravitationsfeldes Blumenberg, wie der Erzähler  Sibylle Lewitscharoff.

Hat sie SL vielleicht mehr gewährt als Insider-Information, nämlich in ihre Haut zu schlüpfen? Wie intensiv haben sich die beiden Frauen über diesen geheimnisvollen Mann ausgetauscht? Bettina Blumenberg zeigt sich in ihrem Vortrag  vom Erzähler Henry James fasziniert, seiner Verweigerungshaltung gegenüber der üblichen Erwartung, überhaupt etwas zu erzählen, beschreiben, erinnern, von James als Großmeisters der Ironie. In seinem Roman „Washington Square“ sei das Haus Protagonist. Doch lasse er den Leser nie eintreten. Die Räume sind dem Leser nicht begehbar. Und ein junger Mann sehe seine künftige Braut zum ersten Mal in einer Festgesellschaft durch einen Spiegel – der unbeobachtete Beobachter, vom Autor dabei beobachtet. (HB-Tagung Heidelberg, am 4.9.13)

Wie viel muss man von Hans Blumenberg wissen, um sich für ihn zu interessieren? Er selber nannte im FAZ-Fragebogen Sokrates seine Lieblingsfigur, weil man nichts von ihm weiß und sich alles denken kann.

Was erfahren wir, wenn wir die anfangs wie unabsichtlich gestreuten Schlaglichter versammeln? Ich zitiere ein paar:

…. gerade eine neue Kassette zur Hand genommen, um sie in das Aufnahmegerät zu stecken

…. er auch beim Finden von Sätzen im Kopf eine eiserne Disziplin zu wahren pflegte und zwar fast so geordnet. wie er gemeinhin sprach, ob er nun ein empfangsbereites Aufnahmegerät vor sich hatte oder die Ohren eines Kindes  (S.9)

…. zum einen deckte Blumenberg der große schwere Schreibtisch

…. Blumenberg bekam Lust zu sagen: Ich bin katholisch, du kannst mich ruhig fressen. Der Ausdruck katholisch ist – für Blumenberg typisch – ambivalent. Es geht um keine aktuelle Konfession. Der Satz zeigt einen noch im Erschrecken geistvollen Menschen, der einen unerklärbar auf dem Buchara-Teppich liegenden (etwa halluzinierten?) Löwen in historischer Gestalt spontan mit einem traditionellen Sinnbild römischer Christenverfolgung verbindet. (S.109

…. Mit seinem geliebten Axel zu sprechen, dem weißhaarigen Collie zu sprechen, war Blumenberg immer leichtgefallen

…. eine Herausforderung der Nacht, spät, um Viertel nach drei, wie ein Blick auf die Uhr ihm bewies  (S.11)

…. es war, als wären alle Laden seines Panzerschranks aufgefahren und die darin verwahrten sechsunddreißigtausendsechshundertsechzig maschinengeschriebenen Karteikarten flögen daraus wie sprühend hervor

…. Besonnenheit. An den Nerv eines Bildes, an den Nerv eines Problems kommt man nur heran, wenn man das einzelne Bild, das einzelne Problem geruhsam sich vorlegt und prüft. (S.12)

…. sein Gedächtnis, das normalerweise tadellos funktionierte, besser als bei jedem ihm bekannten Menschen, ausgerechnet jetzt zu einer gründlichen Sichtung des Löwenproblems nicht in der Lage war.        13

In diesem außerordentlichen Moment werden Informationen über Umgebung, Gewohnheiten, Sprache und Haltung des Protagonisten unauffällig gestreut. Unauffällig? Genau solche Elemente hoffte ich im Roman zu finden. Sie gaben dann auch der zwar emotional aufgeladenen, aber gleichwohl statischen und mit der Zeit ermüdenden Eingangssituation Spannung. Wie zufällig nach den Bedürfnissen der Erzählung schienen sie ausgewählt und an Tragweite höchst unterschiedlich.

Ein historischer Roman? Ein schlüpfriges Wort. Anachronismen, was die achtziger Jahre angeht, habe ich nicht gefunden. Doch vielleicht wissen Sie es besser.

Den Schluss der Handreichung reiche ich Anfang Dezember nach, für den Fall, dass Sie nur noch nicht dazu gekommen sind, das Buch zu lesen. ———-

——– STOP ——————–

Am Ende verlassen wir HB in der letzten Höhle vor dem Nirwana. Mir ist klar: Die anderen Protagonisten mussten grellbunte Tode sterben, damit sie ihm hier in dieser surrealen oder hyperrealen Atmosphäre begegnen.

Vorher sah ich diese Passagen eher als erzählerischen Kniff, um die philosophischen Passagen vor allem in der Mitte der Erzählung auszutarieren. Ich dachte an meine Lektüre von Robert M.Pirsig’s “Zen and the Art of Motorcycle Maintenance – An Inquiry into Values“ (1974) vor vielen Jahren. Dort treibt eine dramatische Vater-Sohn-Geschichte in Fortsetzungen den Leser an.

Überhaupt, ‚der Erzähler’! Der Autorin gelingen wunderbare Reiseschilderungen aus Ägypten und vom Amazonas, die die Farbigkeit unbedingt eigenen Erlebens haben, versetzt mit einem historischen Faktor. Lewitscharoff muss einfach in diesen Ländern gereist sein und zwar so wie ein großer Fotograf, der auf den richtigen Moment für die Aufnahme warten kann. Die ägyptischen Miniaturen haben etwas von der Dichte spätromantischer Orientalia, auch von einem Spielfilm.

Das Sterben Blumenbergs hat mich in dieser Schilderung unmittelbar berührt. Das mag auch mit meinem Alter zu tun haben, aber sicher mit der mutigen und subtilen Art, in der Lewitscharoff den Tod vor uns hintreten lässt.

Es wäre sicher höchst interessant und höchst spannend, ein Making-off  dieses dokumentarischen und poetischen Romans zu lesen, aber das gibt es (fast) nur für Filme. Abgebrühte Leser wie ich verlangen aber gerade danach. Hat schon jemand mit der Autorin ein Interview darüber gemacht?

13. Oktober / 8.Dezember 2013