Der Mensch in der Falle der digitalen Revolution

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zu: „Welt ohne Menschen“ Dokumentarfilm von Philippe Borel, 97’, F 2012 ausgestrahlt in ARTE

Die digitale Revolution verändert uns zweifellos tiefgreifend, auch wenn ich es gern anders hätte    . Es kommt dabei nicht auf Ideen oder Ideologien einzelner Initiatoren oder Strategen an. Sie handeln als intelligenter Schwarm entsprechend den Möglichkeiten, die sich ihnen bieten. Sie werden mit harten Realitäten konfrontiert, jeweils auf ihr Sichtfenster begrenzt, aber bedrohlich. So wird die Menschheit weiter wurschteln. Nichts sei damit gegen Gesetze und andere Maßnahmen und Vereinbarungen gesagt. Alle möglichen uns aus der Politik und Wirtschaft vertrauten Faktoren – Gremien und Verfahren, aber auch Ressourcenknappheit –  werden darüber entscheiden, wer wozu Zugang haben wird.

Stanislaw Lem hat lange schon ironisch den zahlungsunfähigen Cyborg, als zivilrechtlichen Fall in einer Kurzgeschichte auftreten lassen. Der wird gefragt: „Wer sind sie, Mr. Johnson?“ Sich nicht von sogenannten Wertedebatten ablenken lassen! Was ist daran so interessant, ob jemandes Bein zur Identität gezählt wird, außer für die entsprechenden Fachleute? Die globale Debatte – selber von Apparaten kanalisiert – gehört einfach zum Prozess, einschließlich der Wortführer auf den Bildschirmen. Medienauftritte folgen ihren eigenen Regeln. Was hinter den Namen Roland Gori oder Pierre Dartot an Widerstandspotential steckt, lässt sich nicht aus den Interview-Sequenzen ersehen.

Sich nicht über die Ideologen aufregen – Utopien gab es immer! Vor allem nicht den Überbringer der schlechten Nachricht schlagen, Vilém Flusser. Als er nach seinen Brasilien-Illusionen um 1970 die revolutionäre künftige Rolle des Computers erkannte, reagierte er nach seinem persönlichen Erfahrungsmuster: Mit Glück war er 1940 der Vernichtung durch ein erdrückend übermächtig erfahrenes Regime entkommen. Auschwitz war sein bleibendes Trauma, dessen Bearbeitung er in „Bodenlos“ andeutungsweise schildert.

Wieder fühlte er sich – diesmal mit der gesamten Menschheit – in einer Falle und suchte den Ausweg mit den philosophischen Mitteln seiner Generation, mit einer Neigung zur Apokalypse.

Man vergisst zu leicht, wie eng der Horizont für philosophischen Standpunkte ist – meist beschränkt aufs Allgemeine. Schönstes Beispiel ist Heidegger, der politisch und sozial geradezu als idiot savant bezeichnet werden könnte. Wie oft sind weltoffene Literaten klüger, in diesem Fall etwa Aldous Huxley, der bereits 1932 der Schönen Neuen Welt  das weite Niemandsland der Reservate beigab.

Im Filmfeature deutet jemand an, dass vielleicht gerade nicht das Gros der Behinderten Zugang zu den tollen Prothesen haben wird. Und während von Überalterung der Bevölkerung und fehlendem Betreuungspersonal die Rede ist, von Ansprüchen ans individuelle Leben und Ansprüchen des „globalen Konkurrenzkampfs“, wird daneben zweifellos ein wachsender Anteil der  Weltbevölkerung seinen dürftigen Anteil daran genießen – etwa über Medien in riesigen Slums – Megacities –  oder ganz aus den Systemen herausfallen.

Was den angeblichen Verlust „der menschlichen Werte“ angeht – auch „die Solidarität“ wird aufgeführt –  wird sich selbstverständlich die Erosion solcher Werte fortsetzen, die sich unter anderen Verhältnissen entwickelt haben. Die Digitalisierung des Alltags beeinflusst die Richtung der Änderungen, aber sie ist in eine Konsumgesellschaft eingebettet, die vor hundert Jahren von den USA ausging und sich nach 1945 global verbreitete. So haben im Hollywood-Film von Fleischer „2022“ die Einheitsfutterbohnen angeblich aus Soja verschiedene Farben. Auch das würde Flusser nicht bestreiten. Die Revolutionen 1989 – und in China ab 1978 – haben nur historische Sonderwege beendet. Als Flusser sie schlichtweg ignorierte, wie schon die sozialistischen Illusionen westeuropäischer Studenten und Intellektuellen, zeigte er Weitblick.

Trotzdem sollten wir beim philosophischen Nachdenken in einem gewissen Sinne zur Tagesordnung übergehen und die Menschlichkeit nicht wie eine bedrohte Tierart behandeln. Schließlich verlassen nicht einmal die Visionen des Transhumanismus das Universum des menschlichen Gehirns. Dass kleine Teile unserer chaotischen Weltgesellschaft eine überaus befremdliche Kultur des Apparatismus und des Prothesenkults entwickeln, ist zwar so noch nie da gewesen, aber die menschliche Geschichte enthält schon einiges Bizarre. Die in ihrer ausgebildeten Form gerade mal ein halbes Jahrhundert alten Menschenrechte könnten demnächst in existentielle Nöte kommen, aber wäre das etwas Neues? Selbst die Totalitarismen sind uralt – etwa der in China. Ob Individuen darin eine lebenswerte Existenz führen, braucht uns nicht zu interessieren. Die heute Lebenden können darüber nicht kompetent urteilen, brauchen es auch nicht. Sie sollten sich um ihre Freiheit heute kümmern. Stanislaw Lem und in seiner Nachfolge Kubricks „2001“ haben uns überdies eine Lösung vorgeführt, die schon von Hackern, Cyberterroristen und anderen Kriegern asymmetrischer Kriege ausprobiert wird: den Hammer schwingen, den Stecker ziehen.

Ist Transhumanismus ein Problem in der Flusser community?

Nach reiflicher Überlegung meine ich, dass wir gar nicht die Möglichkeit haben,  eine transhumanistische Traditionsbildung um Vilém Flusser zu verhindern. Wenn es uns aber um seine Person geht, sollten wir seine Ängste, Bedenken und Zweifel im allgemeinen Bewusstsein wachhalten. Dabei sollten sie nicht zum etwas abseitigen  Spezialgebiet von Traditionalisten („Sie kicken tote Pferde.“ VF) werden. Gedankenlose Optimisten müssen regelmäßig zur Diskussion aufgefordert werden.

Andernfalls wäre VF eben für den Humanismus verloren. Ich würde mich auch nicht mehr für ihn engagieren. Er sich würde esübrigens auch nicht. Nur als intellektuelle Klammer, als Prophet auf dem Berge, von dem aus er den Leser in beide Richtungen blicken lässt, ist er von Wert.            27.10.2012

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