Schrift oder technisches Bild – Oder? Und.

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Anlass für diese bescheidene Bestandsaufnahme ist eine Examensarbeit in Philosophie, die ein Freund vor Jahren über Jacques Derrida und Vilém Flusser unter dem prätentiösen Titel Die Schrift im Zeitalter der technischen Bilder verfasste. In meinen Augen haben die beteiligten Philosophen wieder einmal – natürlich mit Absicht – die Erwartungen enttäuscht, die schlichte Pragmatiker an so große Köpfe zu richten pflegen.  Schauen wir also einmal genauer hin!   

Persönlich habe ich das Gefühl, dass ich vor allem durch lineares Schreiben die Grenzen meiner geringen Vorstellungskraft überwinden kann, unterstützt durch Ausdrucke, durch bloßes Aufstehen, Gehen und Radfahren. Doch deshalb muss ich dem technischen Hilfsmittel  keine einzige unbegründete Wirkung zuschreiben! Was ist konkret zu fragen? Was passiert denn Neues, wenn dieses Schreiben sich vom Papier löst und auch noch von der mechanischen Schreibmaschine?

Entscheidend ist erstens eine Überschreibkompetenz, welche die ästhetische Qualität einer weißen Seite Papier bietet, aber zugleich im Hintergrund alle bisherigen Korrekturen als Dienstleistung bereit hält, ohne dass sie den Fortgang stören können. Ersetzt werden handschriftliche Textkorrekturen und im Endeffekt die menschenunwürdige Arbeit einer Text-Reinigungskraft mit dem Titel ‚Sekretärin’. Also Perfektionierung der Schreibkultur mit dem Schreibprogramm im PC!

Die Handschrift, die nur Perfektionisten oder ein Großdenker (Heidegger) – dieser mit entsprechendem Pathos – idealisieren, was ihnen Gedankenlose nachplappern, ist eine Kultur, die große Anstrengung erfordert und von kaum jemandem perfekt beherrscht wird. In der Notiz ist die Handschrift kaum zu ersetzen. Und für den Alltag  von Wortprotokollen gab es bisher sogar standardisierte Kurzschriften. Die Handschrift war einmal ein notwendiges Übel – wenn man keinem Sekretär diktieren konnte. Sie ist heute nicht mehr notwendig. Skandinavien schafft sie folgerichtig in der Schule ab, die Handschrift, nicht die Druckschrift.

Auch die Ablösung vom Papier entlastet das Schreiben. Nicht nur macht es das Abschreiben (Kopien) überflüssig, sondern erleichtert auch das Archivieren und Versenden, am stärksten, wenn es digital geschehen kann. Es wird deutlich: Es sind früher notwendige Hilfsarbeiten, von denen das Schreiben entlastet wird. Die ganze Aufmerksamkeit des Schreibenden kann sich auf das Schreiben, das Formulieren, die Reihenfolge, die Textgestaltung, die Gliederung richten. Auch das Lesen kann komfortabel an die Bedürfnisse des Lesenden angepasst werden.

Weitere Entlastung des Schreibens durch Voice Over und Bildtelefon. Die auch im Ergebnis primitive Technik der SMS wird überflüssig. Doch hat die etwas mit den Qualitäten des Schreibens zu tun? Wenn man früher in Briefen quatschte, kann man das heute direkt dank Flatrate. Wo es ernst wird in Beziehungen, im Guten wie im Schlechten, ist das überlegte Wort, zu sich selbst gesprochen oder anderen übermittelt, wirkungsmächtig, vielleicht unersetzlich, bei Abwesenheit auch im Alltag. Das kann dabei in Poesie übergehen.

Professionelle Protokollanten – bei Polizei, in Gerichten und in Parlamenten können einem leid tun, wenn sie nicht – nach Art der Schriftkultur – komprimieren dürfen. Komprimieren, auswählen, hervorheben – wie elend ist doch das digitale Archivierungsformat des PDF, das Textseiten in Pseudo-Bilder verwandelt! Im Namen des Copyrights wird die Aneignung hintertrieben.

Ist es ein Verlust für das Schreiben (und Lesen), wenn ‚Groschenromane’, auf Amerikanisch: junk books der Domäne der Schrift verloren gehen? Vielleicht unter dem volkspädagogischem Aspekt, den Rückfall in einen oft mühsam überwundenen Analphabetismus zu verhindern? Doch das leisten auch einfache Sachtexte wie etwa technische Anleitungen. Das Schreiben wird im Kern auch unterstützt, wenn ihm technische Bilder zur Hilfe kommen. Es muss nicht mehr leisten, wozu es suboptimal geeignet ist. Wie oft besteht das Ziel des Schreibenden denn im Evozieren innerer Bilder – wie in der Literatur und besonders Dichtung? Bei vielen Gelegenheiten wünschen wir vielmehr, informative Bilder zu erhalten.

Bisher kann ich keine ernsthafte Bedrohung der Schriftkultur durch die digitale (Bild)technik erkennen! Wohl aber durch eine Verblödung der Mehrheit der Menschen, die (noch) eine verantwortliche Rolle in der westlichen Gesellschaft einnehmen sollen. Das ist eine politische Bedrohung des Sozialsystems durch schriftferne Medien, aber betrifft die Schrift nur indirekt. Deren Einflussbereich mag tendenziell abnehmen, das betrifft aber nicht ihr Fortbestehen. Mit dem Einflussbereich mag auch der Kreis derer, die Teil der Schriftkultur sind, kleiner werden, viel kleiner werden, aber die berüchtigte ‚soziale Schere’, die überwiegender Auffassung ‚sich öffnet’, ist ein anderes Thema. Eine komplexe Form der Auseinandersetzung mit der Welt kann im bisher vorstellbaren technologischen Horizont auf ‚die Schrift’ nicht verzichten. Gehören mathematische und naturwissenschaftliche Formeln nicht auch zur ‚Schrift’? Hier können dann weit kühnere Szenarien ansetzen.

26.1.2016