Akademischer Blogger sucht Rat in der Schreibkrise

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DIALOG

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Der intelligente Leser, der seine durch die LektĂŒre aufgescheuchten Gedanken verfolgen will, sie gar zu formulieren wagt, gerĂ€t unversehens in eine Hetzjagd. Wenn er anhĂ€lt, um nachzudenken, ĂŒberrollt und ĂŒberholt ihn das Gelesene und ist ĂŒber alle Berge. Wie will er es je einholen und beim letzten Satz sagen: Ich habe dich gelesen? Wenn er frĂŒher Gelesenes assoziiert, droht er bereits beim Nachschlagen eingeholt und sein betreffender Gedanke erschlagen zu werden. Das war’s wieder.

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Gib doch ein Beispiel.

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Beispielsweise: Die drei Autoren von ‚Matvejs, Markov and ‚Primitivism’ (Ashgate Verlag, 2014) beginnen ihre Einleitung mit Imagine an exhibition ... und erinnern an ein historisches medly of works from five continents, an den dialogue in diversity darin und die vibrations aus einer visual cacophonie. Und gerade dort habe Kandinsky erwartet, dass der Betrachter die SphĂ€re der Kunst betreten könne.

Soll ich ĂŒberhaupt zitieren? Vielleicht gar die isolierten amerikanischen Satzfetzen ĂŒbersetzen? ohne darĂŒber zum Stillstand zu kommen?

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Warum nicht den Rest auch noch in Englisch verfassen?

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Zeitverschwendung! Die Zitate sind Formeln einzigartiger Strahlkraft. Sie will ich unmittelbar nutzen. Jeder versteht heutzutage Englisch. Wir beide springen zwischen den  benachbarten Sprachen hin und her, ohne den Umweg ĂŒber die TreppenhĂ€user zu nehmen. Nur der bezahlte Geisteswissenschaftler hat so viel Zeit.

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Geduld ist seine grĂ¶ĂŸte Tugend, wie du wissen solltest …

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Auch Papier ist geduldig

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… Ungeduld wĂ€re sein grĂ¶ĂŸtes Laster. Und dabei sinnlos. Denn die Frucht seiner MĂŒhe geht in die HĂ€nde von Bibliothekaren und auf die notorischen BĂŒcherstapel von abonnierten Lesern, so hoch wie die berĂŒhmten Aktenberge der BĂŒrokratie.

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Wie lassen sich so spontane Ideen einfangen?

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Was fĂŒr eine Frage? Die gehören in den Zettelkasten, damit sie nicht herum schwirren.

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Wenn ich damit aber nicht die Disziplin aufbringe wie Luhmann oder Blumenberg?

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Dann hast du keine Chance.

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Wie verhalte ich mich etwa, wenn mir in der Mitte der LektĂŒre  die einprĂ€gsame Formulierung vom Anfang dieser Einleitung:  ossified academic models wieder einfĂ€llt, weil in diesem Text zentrale Begriffe wie primitivism in alle Richtungen zerpflĂŒckt worden sind.

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Eigentlich mĂŒsste dir doch die BemĂŒhung dieser Leute, Ordnung in die verwendeten Begriffe zu bringen, sympathisch sein. KĂ€mpfst du nicht stĂ€ndig mit wilder Verzettelung und Chaos?

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Ach was, jeder neu in den Diskurs Eintretende bedroht die auf dem Schreibtisch aufgebaute schöne Ordnung, und die alten, niemals hinreichend zu berĂŒcksichtigenden anderen Autoren erkennen die Ordnung ohnehin nicht an.

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Ja, die akademischen OrdnungsbemĂŒhungen scheinen des chaotischen Elements in der Kommunikation nicht wirklich Herr zu werden.

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Wie tröstlich fĂŒr mich, wo ich Ordnung doch immer wieder als Utopie,  oder als SelbsttĂ€uschung oder Fatamorgana erlebe.

Aber weiter im Text der drei Autoren: Angeblich ist heute nicht mehr korrekt, was Kandinsky und Matisse noch sorglos taten, einzig auf die pĂ€dagogische oder therapeutische Wirkung bedacht. ‚Wer hilft, hat Recht’, gilt das heute nicht mehr?

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Nein: nur noch, wer nachweislich hilft. Und wer sagt ĂŒberhaupt, dass jemand von dir oder meinetwegen Matisse oder Kandinsky geholfen haben will?

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Du meinst, dass nicht jeder ausgerechnet Kandinskys SphĂ€re der Kunst zu betreten wĂŒnscht?

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Was gab es bei ihm ĂŒberhaupt verlĂ€sslich zu betreten? Die SphĂ€re der Kunst! – Doch diese Frage ĂŒberlassen wir bitte den berufenen Fachleuten! Mache dich kundig und wir sprechen uns ĂŒbernĂ€chste Woche wieder!

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Diese Zeit habe ich nicht. Ich will doch niederschreiben, was mir auf der Seele brennt!

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Je mehr du dich ausbreitest, desto weniger wirst du gelesen.

(21.8.15)