Rede zum 20. Jubiläum der Gesellschaft für deutsch-chinesische Freundschaft Frankfurt am 18. März 1994
Ich habe für den heutigen Abend alte Texte und Notizen wieder gelesen und stelle fest: meine Überzeugungen und Ansichten von damals erscheinen mir überhaupt nicht peinlich oder lächerlich, sie haben auch heute noch nichts zu tun mit Rotem Osten und Großem Steuermann. Doch sind die siebziger Jahre sehr weit weg, MAO und sein Reich liegen unheimlich weit entfernt in einem Jenseits, wohl auch, weil ich mich 1977 total abgewandt hatte, und das erst 1988 wiederentdeckte China bereits alles Jenseitige abgestreift hatte: Wenn sich schon spontan historische Bezüge herstellten, dann waren es eher die Zwanziger und Dreißiger Jahre.
Wie lautet noch der Satz von Victor Zorza, der mich 1969 furchtbar aufregte? „Der Kommunismus ist eine kurze Episode, die einen Teil der Menschheit vom Lauf der Geschichte getrennt hat.“ Mao war einer meiner Lehrer und jene Jahre meine politische Lehrzeit. Ich verdanke Mao Erfahrungen, zu denen ich ohne „ihn“, „seine“ Lehre nicht den Mut, nicht den Optimismus aufgebracht hätte. Ich habe nie wieder so viel nachgedacht, beobachtet und engagiert politisch gehandelt. lch erfuhr im „Maoismus“ die erste Religion mit mobilisierender Wirkung nach einem sauren bürgerlich-protestantischen Moralismus und dem Pessimismus der Frankfurter Schule. Heute ist meine Tatkraft erdrückt von der Last des Wissens, des ungeschminkten Wissens . „Selig sind die, die nicht wissen und doch glauben“ war mein Konfirmationsspruch.
Ich kann den Moment der größten Seligkeit genau bezeichnen: jener Mittag am 3. September 1973, als ich die Brücke zwischen Hongkong, und dem Gelobten Land überschreiten durfte; drei vier Jahre lang versuchte ich noch etwas davon festzuhalten, umsonst, der Traum zersetzte sich unaufhaltsam. Die „Enthüllungen“ Über das spät-maoistische Regime berührten mich am wenigsten, und auch heute nicht: Deprimierendes und Grauenvolles nistet überall, hinter Wohnungstüren, in unseren Krankenhäusern und Gefängnissen, hinter dem Horizont der Urlaubsgebiete, in jedem „Tag der Befreiung“. Über Chinas Vergangenheit machte ich mir nie lllusionen, bloß daß die von Lu Xun angeprangerte „Barbarei“ aufgehört hätte, war Illusion! Das menschliche Unglück scheint nicht abzunehmen, die von Marx prognostizierte Alternative zum Sozialismus zeichnet sich ab.
Im Unterschied zum modernen Größenwahn war der „maoistische“ von einem optimistischen Grundgefühl getragen. Maos Name stand für mutige Sprünge, für heroische Befreiungsversuche. Maos Geschichte zeigte List, Klugheit und Stolz, barg Stoff für große Epen. Der „Lange Marsch“*. ein „Alexanderzug“! Ich sehe darin nichts Pathologisches: Der Kult des außergewöhnlichen Menschen ist ein Element menschlicher Gesellschaft, weit älter als die griechische Antike und nicht auszurotten, nur zu korrumpieren. Wir deutschen Maoisten ( so wie man einmal Jakobiner sagte) haben nicht die Härte seiner direkten Herrschaft erfahren, wir wurden nicht zu Verbrechen gezwungen oder verführt, wir entdeckten im Gegenteil trotz kapitalistischer Umgebung soziale Werte neu, für die wir uns sicher sonst wie die jüngere Generation zu schade gewesen wären. Die Funktionäre, die Sektierer waren bei uns unangenehme Erscheinungen, aber doch harmlos; es gibt keine „Kirche“ ohne solche Gestalten.
Der Kopierladen wartet nicht! – Zum Schluß noch ein Satz, zu dem ich etwas improvisieren möchte: „Der Intellektuelle ist der Bruder des Tyrannen“.