Theoretisieren. Und wer behält das letzte Wort?

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Am 10. Juli 2010, irgendwo in Frankfurt. Wir lauschen einer lebhaften Diskussion zwischen zwei Grauköpfen.

K

Wo du bereits deine Schwächen eingestanden hast, geh zu dem, was du für deine Stärken hältst: deinem theoretischen Sinn.   Du hast heute Fritz Kramer mit Roland Barthes „verknüpft“ und im Grunde immer auch mit Flusser und anderem Angelesenen mehr. Doch wen soll das interessieren außer dir selbst? Vielleicht die Erben, die an deinem verwinkelten Nachlass verzweifeln? Es ist eine Passion, dieses Verknüpfen. Du hast dem Conrad von Hötzendorf in Wien vor fünfundvierzig Jahren boshaft angemerkt, dass er die Bücher seiner Bibliothek mit persönlichen Anstreichungen verziert  hat. Und was tust du?

D

Ich suche eine für die menschliche Praxis taugliche Theorie, Theorie für Menschen.

K

Du vermischst den Begriff  mit „Literatur“ und berufst dich auf längst kanonisierte Ahnen, denen man bekanntlich nicht folgen soll.

D

Aber was soll man denn mit ihnen?

K

Gar nichts über den Bereich der weltanschaulichen Freiheit hinaus, und du schon gar nicht. Werde selig. Die kompetente Behandlung erfahren sie im  wissenschaftlichen Apparat, dem du nicht angehörst und nie angehört hast. Damit du es besser ertragen kannst, sind Autoren wie Flusser für dich erschwinglich. Du hast auch entsprechende Sätze bereits angestrichen, aber ohne Erfolg wie es scheint.

Schau in den Literaturbetrieb. Er ist voller Leute, denen es nicht viel anders geht als dir, die aber einen Vertriebsweg für ihre Ergüsse gefunden haben. Viele können sogar davon leben. Sie halten sich allerdings an gewisse Regeln, wozu du dir aber zu gut bist. Du lieferst ein trübes Gebräu. Schreibprogramme sind geduldig. PCs haben für deinesgleichen eine Menge Speicherplatz.

D

Mir dröhnt der Kopf von unterdrückten Stimmen, die Fragen stellen, auf die niemand eine Lösung hat. Theorie ist ruhiger. Was soll die kompetente Behandlung denn sein?

K

Schon einmal von der Urwaldapotheke gehört? von Bionik? Man sammelt sämtliche Problemstellungen und (vermeintliche) Lösungen der Menschheit und ruft sie ab. Das ist deren Geschäftsidee.

D

Das Gedächtnis funktioniert doch anders!  Spontan.

K

Doch nicht in der Öffentlichkeit!

Ihr seid eine hemmungslos nostalgische „verlorene Generation“, die jetzt endlich abtritt. Bei den Grünen verspätet sich der Prozess, die haben in den Achtziger  Jahren noch einmal kräftig Holz nachgelegt. Doch das große sozialökologische Feuer qualmt nur noch vor sich hin. Hinter seinem Rauchvorhang kämpfen die Funktionseliten um Macht und Geld. Dabei haben selbst wir kleinen Leute eine beispiellose Wahlfreiheit: eine Konsumwahl, Angebot an Markenprodukten für jedermann, auch wenn es gar keine Markenprodukte im Sinne des 19.Jh. mehr gibt… Für uns sind Kombinationen sind zulässig. Das Material für Modewechsel, Normenauffrischung, Legitimationsreserven liegt in Form von Optionen bereit.

D

Das kann doch nicht alles sein. Ich sehe jedenfalls auch Zeichen von Subversion und anderen Formen des Widerstands. Vilém Flusser sprach nicht umsonst vom Anhalten, von der Rückwendung, vom Aussteigen aus einem Zug

K

Er träumte aber auch vom Cockpit. Hatte er nicht Angst vor dem Aussteigen? Er hat es nicht so weit kommen lassen. Er hat sich in seiner Hektik den Kopf eingerannt.

Zur Orientierung in dem großen Chaos gibt es doch Scouts.

D

Man muss die Menge der immer unanschaulicheren Analysen wieder auf ein menschliches Maß und in eine menschliche Form zurück zwingen, in mehreren Schritten. Ich eigne mir selber große Schritte durch Lektüre an! Und füge noch spielerisch einen kleinen Schritt dazu. Ganz nah beim Truism, aber nicht identisch! Um diese geringe Differenz geht es mir.

K

?

D

z.B. bei: Überheblichkeit macht blind

K

na und?

D

aber auch dort, wo ich, vielleicht auch „wir“, gar nicht daran denken!

Die beiden Kontrahenten lassen für heute kopfschüttelnd voneinander ab, lassen den Dissenz „im Raum stehen“, wie man zu Zeiten des Ausdiskutierens zu sagen pflegte, und mancherorts in den Familien oder bei vereinzelten unqualifizierten Pädagogen immer noch)

 

                        Fortsetzung am 1. August. D am PC, allein.

 

Er ist aus dem Urlaub zurück, aber K hat Wichtigeres zu tun als fruchtlose Diskussionen zu führen. D hat bei seiner Lektüre Entdeckungen gemacht, die ihn aufgeschreckt haben.Er notiert für sich:

Wir, ein Teil von uns jedenfalls, waren die letzte Generation des 19. Jahrhunderts.

Nachdem in Europa Demagogen im Zeichen einer Restauration wie die Nazis die Modernisierung vorangetrieben hatten, sogar gewaltige Abbrucharbeiten – ähnlich den Bolschewiken in Russland, aber weniger elegant als die Amerikaner – waren unsere Eltern sozusagen die erste desorientierte Generation der neuen Zeit, „Wunderkinder“ des Wirtschaftswunders.

Wir haben noch einmal das Rad zurück zu drehen versucht, unter Beachtung sämtlicher Tabus der Nachkriegszeit, also moralisch, idealistisch in jeder Bedeutung, theoretisch (im Sinne des 19.Jh.) und im Grunde idyllisch. Wir haben uns mit der modernen Arbeitsteilung im Grunde nie abgefunden, belegten sie mit dem Schimpfwort „entfremdet“, verweigerten uns – wenigstens in der Jugend zentralen Schlüsselqualifikationen der modernen Zivilisation, denn wir meinten mit Rhetorik und Verhandlungsführung auszukommen, selbstverständlich nicht auf empirischer Grundlage. Der Lehrer- und Erzieherberuf war unser Schlüsselberuf, ein wenig auch noch der Jurist. Von dort aus drängten wir in die Politik, wo unsere Berufsvertreter sich heute vor allem als sozialrhetorische Kulissenschieber betätigen. Ihre alte Liebe zur Gewaltenteilung und anderen theoretischen Konstrukten praktizieren sie als Kompetenzgerangel, Stichwort: „Föderalismus“.

Wie komme ich übrigens darauf?

Ach ja: ich bewundere die Gelassenheit, mit der sich jüngere Generationen den Konsequenzen der galoppierenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung überlassen können, ohne Angst zu bekommen. Während wir noch dem Zeitalter der Mechaniker und Bürokraten nachtrauern, wollen sie nur ihren persönlichen Einsatz im chaotischen Spiel optimieren. Sind wir doch alle mit Haut und Haaren unserer Gesellschaft ausgeliefert, die uns zu hundert Prozent alimentiert, doch halt! Nicht so wie der moderne Dienstherr seine Beamten, berechenbar und rechtsförmig, nein, wie eine Spielbank, eine Lotterie, … allerdings mit sozialem Netz, wenigstens im Raum der EU.

 

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