Versäumte Lektionen über „1968“

|

 Meine Befragung durch Redakteure der Abiturzeitung 2001 (fiktives Protokoll) :

DvG beunruhigt:  Unsere Lehrer haben ihre Vergangenheit verschwiegen. Sie hatten ihre Gründe. Wollt Ihr mir etwa dasselbe vorwerfen?

 – Na also! Und wie haben Sie mitgemischt? Ziehen Sie Lehren aus „1968“?  Registrieren Sie Wirkungen?  

– Jede Etappe hielt andere Erfahrungen bereit, zu jeder war ich anders positioniert.

– Klingt vielversprechend!

– Die Vorgeschichte: In der Schule als Klassenprimus war ich bereits Außenseiter, und nahm mir die wenigen Außenseiter unter den Lehrern zu Vorbildern.

Als Konfirmanden  schrieb der Pfarrer mir in die Bibel: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“. Selig vielleicht, aber klug? Den Mauerbau in Berlin 1961 hatte ich resignativ verarbeitet: Freiheit nur auf Inseln? Die Kriegsdienstverweigerung war eine Sache mit dummen Schikanen, die ich psychosomatisch umging….

– Eine Menge Psychologie, aber bitte zur Sache kommen! 1968 !

-Antiautoritär hieß für mich das Angebot, mit Brüdern (und Schwestern) gegen unwürdige Väter zu rebellieren und eine herrschaftsfreie Anarchie zu errichten, unter dem Schutz klügerer und vor allem weiter entfernter Väter…

– Sie wollen es nicht anders, also: Was war 1967?

– 1967 waren  für mich bereits manches Thema abgehakt! Ich hatte in Frankfurt Philosophie und Soziologie studiert: Frankfurter Schule: „Kein wahres Leben im falschen“ (klar, besonders in der Bundesrepublik!), „Dialektik der Aufklärung“, „Kein Gedicht nach Auschwitz“, u .s .w.

Dann zog ich 1966 – aus Verzweiflung über die hiesigen Frauen – weg, nach Wien.

Bereits auf halber Strecke ging der Stern der Frankfurter Schule unter. Wer kannte die schon in Wien oder später in Bern? Andere  Namen  waren gefragt. Adorno schrumpfte zum intellektuellen Provinzfürsten mit Hofstaat Als er 1967 von den Studenten (und Studentinnen!) unter Druck gesetzt wurde, hatte ich seine Vorlesungen längst verlassen. Die Seminare waren überfüllt gewesen, die Vorlesungen ein verbales Ritual , das mit dem Hereintragen des Tonbandgerätes für „Suhrkamp“ begann, und voll uneingelöster Versprechungen auf Entschlüsselung der Welt, sprich ihrer Dialektik. Ich nahm mir vor, nur noch seine Texte zu lesen, und tat das dann auch nicht mehr.

Als ich im Sommer 1967 aus Bern zurückkehrte, war der politische Zug bereits abgefahren. Warum bin ich überhaupt zurück nach Frankfurt? Heute sehe ich das so:  Der universale Anspruch der Philosophie – diese Droge – war nur in Frankfurt wirksam, überall sonst herrschte Nüchternheit, nüchternes Handwerk. Mit der entstehenden Bewegung hatte ich also den Größenwahn gemeinsam, nur die Richtungen waren verschieden.

– „Die sexuelle Revolution“ ?

Sie lieferte ein paar bunte Bilder. Persönlich hatte ich endlich die befreiende Liebesbeziehung gefunden. An meiner persönlichen Reifung hat keine Bewegung Anteil. Im Gegenteil: Die  Frauenbewegung hatte mir ende der 70er gerade noch gefehlt, als ich mich dem Einfluss der Kommunisten entzogen hatte.

– Konkrete Erfahrungen bitte sehr! Demonstrationen!

– Demo 1 :vom „SDS“ in die Polizeikette am Ende der Mertonstraße gejagt werden

Demo 2:  die Feindseligkeit von Autofahrern auf der  Senkenberganlage; sie wollen uns überfahren. Hab ich das überhaupt selbst erlebt?

– Vorlesungsstreik ?

–  Was heißt hier  Streik? Studieren ist keine Arbeit, sondern Privileg. Allerdings waren die ekligen legendären „Hörsäle“ „V“ oder „VI“ – fensterlos totalitär- kein Privileg. Ist  mir das banale Ende der „Revolution“ an der Uni selbst eigentlich aufgefallen?  Das business as usual ab 1969, z.B. bei Politologen, Soziologen, Historikern, bei Iring Fetscher, Massing, Bleicken, Hammerstein (auch so ein akademischer Pfeifenjüngling) oder wem auch immer?

– Und Ihr Referendariat 1970/71 ?

– Mit meinem Jahrgang schien die Saat der Erneuerung , die antiautoritäre Saat am Studienseminar aufzugehen, aber nur hier im Studienseminar  III, nicht im Seminar I oder in Offenbach, wo sich sogar zwei Referendare umbrachten, erst recht nicht in II. Dort konnte ich wenigstens  meinen langweiligen Geschichtslehrer – inzwischen mediengeiler Antreiber seiner  Referendare – bei einem Go-in ärgern.

Ich selber durfte den freien Gegentyp zum traditionellen Gymnasiallehrer ausprobieren. Wir Referendare hielten solidarisch (na ja !) einander gegen die Ausbilder den Rücken frei, und die ließen es mit sich machen. Hier  wurde ich ein wenig sozialisiert, sozialistisch umerzogen, wobei mein offenes Wesen immer wieder an den Machtstrategien  von kommunistischen Kollegen abprallte, die ich gerne zu echten Freunden gewonnen hätte.  Aber ist das wichtig?

– Waren Sie nicht Maoist?

– „Die Wahrheit in den Tatsachen suchen“  – Nur ein Narr wie ich nahm diesen Satz Maos zum Nennwert; war er doch der geborene Machtpolitiker und Demagoge. Auch die kleinen Maos in Frankfurt wollten es mit den „Tatsachen“ nicht so genau nehmen. Dazu eine Erfahrung am Rande: Im Antiquariat von Beckers und Repp blieb das große Angebot an China-Büchern liegen, und das während der größten öffentlichen China-Euphorie. Geschichtsbewusstsein war nicht gefragt. Das chinesische Volk sollte  “ein weißes Stück Papier“ sein. Auch das war Mao!

– Was immunisierte Sie dann gegen die abgeschmackten Seiten des Maoismus?

– Wieder ein persönlicher Grund: Die Begegnung mit meinem alten Zeichenlehrer, einem Kenner des chinesischen Volkes. Er öffnete mir den Zugang zur geistreichen Literatur, zur Ästhetik und zum Witz dieses Volkes, das Unterdrückung bereits kannte, als unsere europäischen Vorfahren noch ungebildet auf die Jagd und zur nächstbesten Privatfehde ritten…

Mein Fernweh  verband sich mit politischen Motiven zu einem Utopia:  dass Funktionäre die Straße kehrten. Viel mehr haben wir uns im Westen nicht eingestanden, zumal es schwer war, mehr zu fragen. Und dann schrieb  Mao sogar Gedichte (wirklich?) und wollte während seiner Schulzeit unter der Bank Romane gelesen haben, verehrte  den rebellischen Affenkönig, der im Himmelspalast erfolgreich Unruhe gestiftet hatte … Im übrigen schien mir plausibel, daß  Revolution nicht ohne Übertreibung, ohne Exzesse auskommt,

– Ja die Revolution!

– Ich habe mir  wie viele Andere einen Mythos von einer schönen, heilsamen  Revolution aufschwatzen lassen und ihn bis auf den letzten Stein abarbeiten müssen. Naiv war ich, da diese Idee mit meinem Lebenskonzept unvereinbar war und ist. Die Illusion half mir allerdings, ein paar Jahre lang geduldig ( oder ungeduldig)  harte Gremienstühle in Hinterzimmern zu drücken und persönlich die Erfahrung des bürokratischen Papierkriegs zu machen.

Die Gegenseite war nicht attraktiv: Die  freie China-Wissenschaft in Frankfurt war in Routine erstarrt, sie trieb sich mit Steininschriften und konfuzianischen Klassikern herum. War das etwa besser als die Enge der Kulturrevolution? Ich wollte jedenfalls  der neuen Realität in China nützlich sein.

– Nahmen Sie damals nichts anderes als Exotik und Theorie zur Kenntnis?

– Doch: z.B. Griechenland 1967 , Chile 1973,  Portugal  1970-75  Vietnam: ……

Bei dieser Art der Aufklärung, der Vergewaltigung durch die Ohren und Augen  gingen mir die Augen über. Die Lebenslügen der Erwachsenen, der BRD – mitten darin die von H.M. Enzensberger bloßgestellten Lügen der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ – hatten mich für einen Moment geblendet, für die andere Seite geöffnet, die ich nur in der  Gestalt des Schreckgespenstes gekannt hatte, der ich folglich Vertrauen entgegenbrachte, oder wenigstens nach Gründen suchte, dies zu tun. Doch die ideologischen und militanten Sandkastenspiele von KBW, KPD, RK, RAF und Co. waren nicht mein Ding.

– ??

– Meine Erwartung , die Ausbeuterklassen würden ihre letzte Generation erleben und  ich ihr Verschwinden, beruhte auf der Vorstellung einer allgemeinen emanzipatorischen Entwicklung, unterlegt mit der Selbsttäuschung des engagierten Lehrers, der an die bessernde Wirkung von Aufklärung glaubte, mit einem Optimismus, der ja auch den Anfängen der ökologischen Bewegung zugrunde lag. Solche Irrtümer sind das Recht der Jugend und derer, die mit Jugend infiziert sind.

Die Siebziger Jahre sind mir unter vielen Aspekten als hässliche Zeit in Erinnerung. Sie harren ihrer Neubewertung. Ich selber gefalle mir nicht besonders in diesen Jahren.

– „1968“ – Muss man in Ihrem Alter dabei gewesen sein?

– „1968“ war zwar eine Art sozialer Verdauungsstörung, aber wohl nach zwei Jahrzehnten Obstipation (Verstopfung) nötig,  und wer bei diesem Großreinemachen nicht mitgetan hat, steht im Verdacht, immer noch verstopft zu sein.

Im Bewusstsein, daß große Veränderungen sich auch ohne unser Zutun durchsetzen – in unserem Fall hinter dem Rücken der rot geflaggten „Revolution“ – ist mir heute die Frage wichtiger, ob ich mich für die Figur, die ich damals abgegeben habe, schämen müsste. Ich habe 1968 zu politisch angegriffenen Professoren gehalten, habe Informationen und Freiheiten nach Kräften genutzt, ohne mich wieder einsperren zu lassen,  ich habe den Geist der Brüderlichkeit mit Optimismus in meiner Pädagogik erhalten. Meine theoretischen Irrtümer blieben im normalen Maß  wissenschaftlicher Dummheiten; ich habe nie die ungläubige Haltung aufgegeben, auch nicht, als ich 1973 in der VR China  meine Notizen und Fotos machte. …

Wollen sie etwa mildernde Umstände geltend machen?

….Das Lagerdenken , das sich aus den 50er, 40er, 20er Jahren  bis in die Gegenwart  schleppt, hat mich nie wirklich im Griff gehabt.

– Schön, wie Sie sich verteidigen! Jetzt wenigstens noch eine Bilanz!

– Irgendwie waren diese Zeiten ideal für mich, weil sie – trotz „Radikalenerlaß“ und „Deutschem Herbst“ – den Grad der Zivilisation der Bundesrepublik vermehrt haben: a) durch  erweiterte Freiheiten b) den raschen Wechsel der Moden als Mittel gegen geistige Abstumpfung, und c) durch ein überwältigendes Unmaß an Informationen, das endlich erlaubte, die notgedrungen unkritische Dankbarkeit gegenüber Aufklärern loszuwerden und auf eigene Faust nach Qualität zu forschen.

– Und was meinen Sie, waren die wirkenden Kräfte?

– Vielleicht  waren die Gastarbeiter und die Emigranten der diversen Diktaturen  einflussreicher als unsere Studenten-Bewegung“….. und natürlich die Computerrevolution und die Revolution der Medien, und  die –  in den  deutschen Wohlstandstourismus mündende – Reisefreiheit! Und die Internationalisierung der Kultur! Und der Bankrott der Sowjetunion!

Waren wir nicht genau so aufgeregte Zwerge gewesen wie zwanzig Jahre später die Idealisten, welche die runden Tische der abtretenden DDR bevölkerten?

– Danke für die ultimative Lektion!

 

6.6.2001, für die Abiturzeitung als Gastbeitrag geschrieben, publiziert?

 

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert