Brief an die lieben Abiturienten!   Â
Ist es nur ein Entwurf geblieben? – Nein, er findet sich auf S.85 in „abi null vier – die Besten sind wir“ als – unaufgefordert eingereichter – Beitrag unter der Rubrik „lehrerrevier“. Welche Genugtuung! Denn der wehleidige und ‚verchillte‘ Scherz-Test auf S.88/89 Â „hier waren wir: Spanien vs. Frankreich“ ist mir immer noch zum Kotzen. Oder lese ich ihn heute etwa zum ersten Mal? Â 22.6.2014
Frankfurt, den 4.4.04Â Â Â Â Die Katalonien-Fahrt
Ich sehe euch bei der PrĂŒfungsvorbereitung vor mir, und ahne den Kampf, der jedem und jeder in den kommenden Jahren bevorsteht, und ich denke, dass ich euch manchmal zu streng beurteilt (aber nicht so sehr streng behandelt) habe.
Niemand bleibt ewig jung, und der Abschied von Euch und euren VorgĂ€ngern ist seit Jahren auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Jugend. Ihr verfĂŒgt ĂŒber manches gedankenlos, was mir in meiner Jugend schmerzhaft unerreichbar war. Ich sage nur: Selbstbestimmung und Umgang mit dem anderen Geschlecht. Doch Ihr zahlt ja auch fĂŒr eure Privilegien, und dies nicht schlecht, ob es nun das ĂbermaĂ an Verunsicherung oder was sonst ist. Ich bin heute gern ein Mensch des 20. Jahrhunderts. Neugierig darf man ja trotzdem sein. Freilich fĂŒhle ich mich in meiner Nische nicht allzu sicher, und das ist gut so: Denn schon die Illusion von Sicherheit (und mehr gibt es nicht) macht dumm.
Manche von euch kennen mich nur von der Kursfahrt nach Katalonien, und vielleicht bloĂ als engstirnigen OrdnungshĂŒter, dem ein gewisser Frust anzumerken war.
Es stimmt, dass ich diese Massenfahrt – wie sie schon seit Jahrzehnten ĂŒblich ist – nicht ganz freiwillig angetreten habe, sondern aus Resignation gegenĂŒber dem Zeitgeist in meinem Leistungskurs. Wir wĂ€ren mit dem Flug nach Irland/Nordirland auf fĂŒnfhundert Euro Grundpreis unter spartanischen Bedingungen gekommen und wir wĂ€ren ganz allein Richtung Norden gereist! Wir hĂ€tten Vorschriften verletzt, und jeder Teilnehmer hĂ€tte uns auffliegen lassen können. Und so wurde es nichts mit dem Besuch der neurotischen Iren, von denen man so viel ĂŒber politische Sackgassen lernen kann, und nichts mit dem Charme ihrer weiten nordischen StrĂ€nde und engen – bis vor kurzem noch verrauchten – Pubs.
Wenn mir jetzt die Ballermann-Prospekte von âAbi-Toursâ begegnen, könnte ich kotzen, doch muss ich akzeptieren: FĂŒr die meisten Menschen sind âArbeitâ ( oder Studium) und âLebenâ unvereinbar. Verantwortung und VergnĂŒgen scheinen fĂŒr die meisten im unversöhnlichen Widerspruch zu stehen.
Der Ethik-Kurs, den ich vorher sehr geschĂ€tzt hatte, sprach nicht mit mir. Der Leistungskurs verhielt sich loyal, wie man das so erwartet. Der – erkĂ€mpfte – dritte Ausflug nach Barcelona war unpopulĂ€r; was haben wir werben mĂŒssen, um zwanzig Leute zusammenzukriegen! Man wollte âchillenâ oder âgepflegt Essen gehenâ.
Mir unvergesslich bleibt die Szene, als ein ganzer Bus gegen eine Wanderung im Regen rebellierte. In einer Zeit der ĂberausrĂŒstung (auch âoverdressingâ genannt) habt Ihr das jammervolle Bild fehlender Schuhe und Schirme geboten!
Also lieĂ ich meine âEthikâ-SchĂŒler unter Euch eine Kursarbeit ĂŒber âKulturtourismusâ schreiben, nur um zu erfahren, dass sie auf die Werbung (frĂŒher: Propaganda ) hereinfallen oder einfach glauben wollen, es handele sich dabei um etwas Besonderes. Ich konnte mit dem âBaliâ-Attentat aufwarten, in welchem sich (mit Baudrillards Hilfe ) der âHassâ der touristisch Kolonisierten erkennen lĂ€sst. Ein Totschlagargument? Das half aber keineswegs gegen die EnttĂ€uschung, euch in diesem Touristen-Kontext spielen zu sehen und nicht einmal Austausch darĂŒber zu haben.
Als wir uns trennten, hatte ich mit meiner Frau noch zwei Wochen lang eine zweite Chance, in Katalonien und den Pyreneen zu reisen als typischer Mensch des Zwanzigsten Jahrhunderts. Vielleicht antwortet mir ja noch jemand aus dem Einundzwanzigsten. Â Â Gv