Würfel – Drei Zeiten – Selbstlosigkeit – Künstliches Leben

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Ich lese im Mai 2008 in Vilem Flussers Nachgeschichten (Bollmann 1990!) und notiere:

 

WÜRFEL, eine Philosophie des Cockpits! (Systemanalytiker oder Synthesizer)193 – Wir? Gehört  wenigstens der Kreis seiner Zuhörer/Leser auch dazu?

Flusser der Jongleur, dem man (gern) zuschaut, aber eben zuschaut. Die Einwände mancher Schüler. Selber denken ist aber, wenn man es auch mit den drei Bällen versucht. Erinnerung an die unangenehm schneidende (auch noch böhmische) Stimme, an die Fotos, die einen expressiven Menschen zeigen, den eitlen Bart.

Ich bin dem Denker heute Nachmittag im Garten wieder nähergekommen, diesem Phänomen. Seinem Chaos, das nie befriedigend aufzulösen ist. Manchmal ist ein durchkonstruiertes Buch eine Wohltat!

DREI ZEITEN (200): Immer wieder die Arbeit der Epochalisierung! Und das Bemühen – passende Metaphern zu finden – Was hier (200ff.) die Sandzeit bedeutet, dafür steht (192f.) der im Würfel enthaltene Zeitbegriff.

Die Magie der Sprache soll nicht zur Verzauberung dienen, sondern um einen Bann zu lösen. Tut sie das? Er sagt uns immer wieder, womit wir angeblich leben müssen.

So wie F. zwischen den „natürlichen Sprachen“ wechselte, heimatlos, so hier im WÜRFEL zwischen den Sprachen von Physik, Mathematik, Metaphysik,… Führt das nicht in die Verwirrung? Ich denke an die vielen Parallelveröffentlichungen, bei denen er mitmischte, und an das, was ihm in Prag passierte, als er unbewusst vom Tschechischen seiner Jugend ins brasilianische Portugiesische wechselte. Und wir können das nicht immer so leicht überprüfen wie damals seine Ehefrau es konnte. Ein offener zugewandter Gesprächspartner? Kann eigentlich nicht sein, trotz aller Beteuerungen.

Mir fällt der kindliche Gestus auf, das wilde Theoretisieren (irgendwie wie ‚Kinder lösen Probleme’) (204). Die Ungeniertheit. Keiner spricht wie er so oft und offen von Unsinn. Die Masken und Zäune durchschauen, die Rituale durchbrechen, konterkarieren wie es in Andersens „Des Kaisers neue Kleider“ geschah.

Einerseits führe ich das auf seine methodische Haltung der Voraussetzungslosigkeit zurück – natürlich auf dem Rücken anderer im doppelten Sinn, (‚Schach’ in ‚Dinge und Undinge’,1993).

Und dann das andere. Er schreibt: Wir können hinnehmen, dass im Verlauf des Würfelspiels (Wir leben in der Sandzeit mit ihren unwahrscheinlichen Zufällen) zufällig ein Wurf eintraf, von dem ab das Spiel nicht mehr blind ist… (204) So philosophiert er auch, nimmt zahllose Anläufe, schmiedet unablässig unwahrscheinliche Projekte, vorformuliert neue Anthropologien usw.  – Nun ja, wer hinterlässt schon mehr als ein paar Fußnoten in egal welcher Geschichte? – Unermüdlich lehnt er eine Sturmleiter nach der anderen an die Mauern der unbekannten Stadt, die unsere Zukunft darstellen könnte.

Und so las und lese ich ihn auch, wie ein auf ‚Sinn’ trainierter Spürhund. Stefan Bollmann lieferte eine entsprechende editorische Praxis, das motivierende Sampling. Hier sind es die „Nachgeschichten“ zur „Nachgeschichte“.

Auf die Dauer irritierend ist der gänzliche Verzicht auf einen „wissenschaftlichen Apparat“, auf Belegstellen, Literaturhinweise, ist die geringe Zahl der Autorennamen, meist aus der Antike – wie wenn er im Zug oder im Flugzeug oder im Gehen etwa ins Diktiergerät gesprochen hätte. F. verlässt sich allein auf sein Argument. Verhält sich anti-apparatistisch.

SELBSTLOSIGKEIT, worin Flusser interessanterweise bei den Chinesen von der kulturpsychologischen Studie von Longqi „Das ummauerte Ich“ landet. Flusser würde dessen Befunde zustimmend interpretieren. So sagt er selbst: Der konkrete Mensch ist immer Teil von Situationen. … Was immer ich sein mag, ich bin es in Beziehung zu etwas anderem. … ‚Selbstbezogen’ bedeutet ganz einfach, dass wir nicht da sind.“ (212f.) Dafür ist bei den Chinesen der Daoismus zuständig oder der Scharfrichter oder das Hospiz. Meine Empörung darüber seinerzeit  hätte Flusser als Ressentiment beurteilt. Hier wird mir aber auch die westliche ideologische Prägung des Psychologen Longqi noch deutlicher als zuvor. Mir dämmert, dass manche westliche Autoren chinesischen Lesern vielleicht näher stehen als ihren Landsleuten. ‚Der Prophet gilt nichts im eigenen Land’, heißt es. ‚Für eine neue Lektüre von’ Habermas ??

Interessant war auch DIE TASCHE 220ff.

 

KÜNSTLICHES LEBEN*

„…entsetzlich…. der neue Mensch, der da in unserem Innern entsteht …“ (Klappentext) . Flusser formuliert das Thema meiner Neugier, das mich immer stärker umtreibt. Den Epocheneinschnitt, den ich mit der Menschheit erleide. „Man kann auch spielen, um die Spielregeln zu ändern.“ (1984) 199 – solche Sätze wollen „notwendige“ Ausgänge im ertasteten neuen System offen halten, oder doch wenigstens den Platz dafür markieren. Und konkret sind wir ja nicht ganz wehrlos, ob als Reformer oder Terrorist ( „ein die Apparate zerstörender Vandale“ Klappentext).

Man kann Flusser kulturkritisch abgeklärt lesen wie damals die „Frankfurter Schule“: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“,  und „das Ganze ist das Unwahre“. Doch man muss nicht!

Denke ich einen Moment an „authentisches Leben“ heute, dann ist es – und nicht nur für Flusser –  der Kampf mit den und um die Spielregeln. Sie konkret zu verändern ist möglich, das habe ich mir in meiner Arbeit bewiesen, und K. tut es noch heute. Und wenn man dann nach dreißig Jahren – authentisch – abgenutzt ist, dann ist das kein Grund zu klagen; in anderen Berufen sind es mehr die Gelenke gewesen oder die Bandscheiben oder was immer. Das zweite ist aber das „Engagement“, und das war immer schwierig, doch es sind meine eigenen Defekte, die mich davon abhalten, menschenfreundlicher zu handeln.

Extrem deutlich scheint Flusser die Veränderungen im Medien- und engeren Kulturbereich abzubilden: mit dem Begriff „KÜNSTLICHES LEBEN“ 197ff. verbunden: es erzeuge „ein Trommelfeuer an Erlebnissen, Erkenntnissen und Werten (!!!), das die langweiligen Intervalle immer besser vollstopft. Das künstliche Leben ist ein …. sensations-, erkenntnis- und wertlüsternes Leben“. – Spontan fallen mir eine Menge Beispiele ein. Und eigene Erfahrungen und Impulse.

„Freilich, eine Rückkehr in ein unbewusstes, ‚spontanes’ Lebensspiel ist unmöglich“, d.h. „gekünstelt“. 198 z.B. „ .. wer noch spontan schaffen will, ist unauthentisch“ 199: Seit Benjamins „Kunst im Zeitalter ..“ habe ich das Verdikt gegen künstlerisch „reaktionäre“ Verfahren mehr oder weniger übernommen, auch in der Fotografie. Ich sehe in den traditionellen grafischen Techniken im Grunde etwas wie  Meditationstechniken, nur für den Anwendenden relevant, oder wie Slow Food.

Ich hatte wegen der erhaschten, erstohlenen Momentaufnahmen nie ein schlechtes Gewissen oder Minderwertigkeitsgefühl.

Meine Aktzeichnerei sehe ich im Grunde ambivalent: als einen Spielort, in dem der unverkürzt gewährte (wenn auch von Regeln kanalisierte) Anblick, die gewährte Intimität verbunden ist mit einem Ausüben von Kunstfertigkeit, mit einem Gefühl von Kreativität und dem Versprechen – als Sammler, soviel ich erhaschen kann, nach Hause zu nehmen. Ein Spiel also, ein spannendes Spiel, das ein Stück weit auch frustriert und zum neuen Versuch anreizt. Natürlich würde ich oft gern einfach fotografieren, sozusagen mit ungedrosseltem Tempo, aber das ist nun einmal das Spiel. Und ist es nicht das, was Voss mit ungebremstem Genuss, ja demonstrativ praktiziert? Kunst ist für ihn wohl die abstrakte Acrylklekserei, und da erscheint er mir so wenig „authentisch“ wie damals die Klassenkameraden in der 11., die sich dem Diktat des neuen Kunstlehrers unterwarfen und ihre eigenen Arbeiten am Ende nicht identifizieren konnten.

„ ‚Kunst’ im traditionellen Sinne ist im künstlichen Leben ausgeschlossen.“ 199  – Der Satz lässt mir eine „Entdeckung“, die Begeisterung über eine kuratorische Ausgrabung wie von „Tichy, Fotograf“ im MMK plausibel erscheinen, weit über das spekulative geschäftliche Motiv hinaus.

„Der inspirierte Künstler, der engagierte Politiker, der klassenbewusste Arbeiter, der erleuchtete Weise werden zu Dinosauriern. Man wird sie ausstopfen und sodann in Museen bewundern können.“ 196

Die Medien sind daher übervoll von  Charakterdarstellern im weitesten Sinne – sie sind die eigentlichen Helden geworden. Man lächelt über die armseligen Originale, wenn sie mit „Ich war Indiana Jones“ (BILD, vorgestern) oder  „Jetzt rede ich, Oskar Schindler“ gegen Harrison Ford oder Charlton Heston antreten wollen. Oder der unsäglich dumme Kult um den „Dalai Lama“, der nur als Kommunikationsprofi überhaupt politisch überlebt hat. Oder der beständige Schrei nach „Vorbildern“, lebendigen Vorbildern, wo doch Comicfiguren viel besser gesteuert werden können, ohne die lästigen Skandale.

22.5.08

* Im Dezember 2013 habe ich „Künstliches Leben“ ein  weiteres Mal, weit kritischer in  „Lebensspiel Zwei Punkt Null“ besprochen. Ich finde den Vergleich der Herangehensweisen reizvoll.

 

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