Reisen in Polen 1985-1989

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1985 – In Europa war der Kalte Krieg  vorĂŒber,  trotz Amerikas Ronald Reagan. In der Sowjetunion war Gorbatschow an der Macht und ließ demonstrativ den Dissidenten Sacharow frei. Die Polen durchlebten seit 1981 wieder eine heroische Epoche ihrer widerstĂ€ndigen Geschichte, doch  lĂ€ngst hatte sich der sogenannte „Kriegszustand“  abgekĂŒhlt. 

Warum nicht den Sprung mit SchĂŒlern der 13. Klasse ĂŒber den Eisernen Vorhang wagen? In Polen wĂŒrde er lohnen. Die Menschen redeten frei. Die Kommunistische Partei  suchte ihre Rechtfertigung einzig noch im „nationalen Interesse.“  Es gab also viel zu lernen:

Zuerst durchquerte  man die DDR , eine Nacht lang im Transitzug; das erlaubte Milieustudien – die ostdeutsche  Jugend z.B. erschien mir jedes Jahr ungebĂ€rdiger, die Zöllner demonstrierten mit ihren großen StempelkĂ€sten die „SouverĂ€nitat“ der „Deutschen Demokratischen Republik“  und lehrten  politisch korrekt zu formulieren (eigentlich auch wieder nicht ):

– Wo fahrt Ihr hin?

– Nach Breslau.

– Breslau gibt es nicht mehr !

Mit dieser Belehrung ließ der Mann uns sitzen, denn „Wroclaw“  (sprich: Wrotzwaff) lag ihm gewiss zu schwer auf der Zunge. Was machen diese Leute eigentlich heute?  Man musste an den vier Grenzen Stunden warten. „Bahnhof Zoo“, Berlin (West) lag in der Mitte. Bei jeder Ausfahrt aus der DDR  wurden die Fahrgestelle und die Luken ĂŒber dem Durchgang  durchsucht. Auf den Transitbahnhöfen Jena, Leipzig und Dresden waren die Bahnsteige nicht abgesperrt; wir fuhren aber auch im exklusiven „Liegewagen“.

Die Neisse war schmaler als erwartet.

Im Sommer 1989 sind  hier DDR-FlĂŒchtlinge in Richtung Polen  geschwommen. Dann  hat sich die Richtung der illegalen GrenzĂŒbertritte umgedreht. Und der Fluss scheint wieder breiter geworden zu sein.

In Polen lernten wir  Reisegeschwindigkeiten von 40-50 km/h kennen und einen national gesonnenen Schaffner, der nicht  tolerieren konnte, dass Deutsche durch das Zugfenster im ehemaligen Schlesien fotografierten. Unsere Antwort: Das nĂ€chste Jahr stiegen wir hier aus und wanderten auf die Schneekoppe. Dort erfuhren wir praktisch, wie wenig „grĂŒn“ die „BruderlĂ€nder“ der Tschechen und Polen sich waren. Jede Seite hatte eine Gipfelkapelle und eine unterschiedliche Gipfelhöhe, vom Ostseeniveau die einen, vom Mittelmeer  die andern. Wir durften die Grenzlinie auf dem Gipfel keinen Meter ĂŒberschreiten, sie war bewacht. Aber Waldsterben gab es auf beiden Seiten.

Das Konzept der Studienfahrten war einfach:

Zwei Wochen Eintauchen in das Land hinter dem Eisernen Vorhang. Wir waren allein, auch ohne Bus. Telefonverbindungen? GesprĂ€che nach Westen mussten angemeldet werden und nach  einem halben Tag Warten kam vielleicht die Verbindung zustande. Doch wir bewegten uns frei. Die angeheuerte Reiseagentur war nur Dienstleister, der Dolmetscher war kein Aufpasser, und er mußte sich mit uns in viele Straßenbahnen und Stadtbusse zwĂ€ngen.

Ein Jahrgang nahm vorher Polnischstunden, aber mit Englisch kam man gut durch.  Wir blieben mehrere Tage in einer Stadt, und abends zogen die SchĂŒler los. Einmal fand ich einen Zettel unter meiner ZimmertĂŒr: „Es ist spĂ€t geworden, wir haben nette SchauspielschĂŒler kennen gelernt“. Am letzen Abend durfte ich sie auch treffen.

Die Preise waren lĂ€cherlich niedrig: Wir waren „reich“ – eine Belohnung dafĂŒr, seine Bedenken und Ängste (und die der Eltern) ĂŒberwunden zu haben und im Lande immer wieder improvisieren zu mĂŒssen.

Was die vierzehn bis zwanzig jungen  Menschen erfahren haben, kann der Lehrer nur ahnen. Aus den vielen SchĂŒlerberichten soll hier wenigstens ein Zitat stehen:

Wir fragten einen jungen Polen, was er „so allgemein ĂŒber die Nachbarvölker“denkt. „Die Russen“ bekennt er freimĂŒtig, „mag man nicht, und die DDR auch nicht, und die Westdeutschen eigentlich auch nicht.“ Die BegrĂŒndung folgt sofort: „ …diejenigen, die es fĂŒr nötig erachten, mit ihren luxuriösen Lebensbedingungen anzugeben, als sei es ihr eigenes Verdienst…“ Soweit diese eine Meinung, aber vielleicht gibt es ja in Polen, das ja im Gegensatz zur DDR kein Musterknabe des Warschauer Paktes ist, einen Widerspruch: Einerseits die Ablehnung des herumstolzierenden Westlers mit seinem abschĂ€tzigen LĂ€cheln fĂŒr  dies „arme, sozialistische, unterentwickelte Polen“. Andererseits scheinen die Polen – leider, möchte man sagen – nicht ganz unbeeindruckt zu sein von westlichem Lebensstil. Mit rĂŒhrender Unvollkommenheit versucht man ihn allerorten zu imitieren, sei es in Diskotheken oder Modeboutiquen. Auch scheint man die Westdeutschen wegen ihrer Devisen zu schĂ€tzen. Kaum eine Straße oder Kneipe, wo man nicht gefragt wurde: „You want change?“

Wir wurden sehr gut aufgenommen. Die SchĂŒlergruppe erwies sich geradezu als „SchlĂŒssel“ zur intellektuellen Welt Polens. KĂŒnstler, Galerien, Institute schenkten  uns ihre Zeit. Und man reichte uns weiter: die Autorin Hanna Krall ( ĂŒbersetzt  im Verlag Neue Kritik, Frankfurt)  an den  Regisseur Krzysztof Kieslowski ( „Dekalog“, „DreiFarben“: „Blau“, „Weiß“, „Rot“), und  der an  die Filmhochschule Lodz.

Stichwort: Krieg und Shoah:

Wir entdeckten eine 1939 bis 1945  zerstörte Welt: altschlesische Herrensitze ( Ruinen),  FabrikpalĂ€ste des 19.Jahrhunderts in Lodz  ( in alter Pracht ), das spĂ€rlich ĂŒberbaute Besatzungs-„Ghetto“ in Warschau, wo Willy Brandts „Kniefall“ stattfand  und daneben den damals grandios ĂŒberwucherten JĂŒdischen Friedhof. Von Claude Lanzmanns aktueller „Shoa“-Dokumentation eingestimmt, waren wir auch in den ehemaligen  Vernichtungslagern , jedes Jahr in einem. Und wir trafen Überlebende des Holocaust. Es war ein Geben und Nehmen.

Die letzte dieser Studienreisen nach Polen fand ende September 1989 statt, bereits im Zeichen der Massenflucht aus der DDR. Das Treffen mit DDR-FlĂŒchtlingen in einem polnischen Landgasthof werden die Beteiligten sicher nicht vergessen.

Eine Wiederaufnahme dieser Kursfahrten fand nicht statt. Das hatte mehrere GrĂŒnde: Die „Robert-Bosch“-Stiftung, die seit 1986 einen Teil unserer Kosten ĂŒbernommen hatte, förderte nur noch institutionelle Kontakte zu Polen. Der Fall der Mauer  entzauberte  den Osten  und das Interesse der SchĂŒler sank rapide. (Hingegen hatte ich mit DĂ€nemark und Nordirland Erfolg.)

Umbruch 1990

Meine polnischen Freunde waren desorientiert. Ihre Koordinaten waren in die BrĂŒche gegangen. Die vielen Geschichten, die erst die „polnische IdentitĂ€t“ ausmachen, schienen  mit einem Mal kraftlos, gegenstandslos. Vor allem die kulturellen Netzwerke, die sich gegen das Regime gebildet hatten, lösten sich sang- und klanglos auf. Geld und internationaler Ruhm lockten, aber historische Verdienste gegen Zensur und  politische Polizei zĂ€hlten nicht mehr. Neue Wege mussten gefunden werden. Die Themen der Älteren waren ohnehin nicht mehr die der polnischen  Jugend, der sich endlich das Tor zur globalisierten Welt öffnete.

Ich selber fing mit „Polen“ noch einmal „bei Null“ an, knĂŒpfte (1991) mit Kollegen Stadtler neue Verbindungen in Tschenstochau und war eher entsetzt ĂŒber die Entwicklung im Lande. Beim Kreisau-Projekt war ich nicht mehr beteiligt. Generationswechsel  war angesagt, nicht zu viel angebliches Wissen von Gestern. Das war erst einmal in  persönlichen Erinnerungen gut aufgehoben.

Ein Wort zum Schluss: Wer Polen vor 1990 gekannt hat, wird  meine persönlichen Wertung  teilen: Es ist gut, dass diese Grenzen gefallen und Polen in jeder Hinsicht mit uns in Europa angekommen ist.

27.01.2002                D. v. Graeve

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