VF „Gesellschaftsspiele“ gelesen.

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VILEM FLUSSER – EIN SPIELER?

Die Anthologie von 1993 gibt keine Quelle für den Flusser an, keinen Hinweis auf das Archiv oder eine frühere Publikation (allerdings wird in einem anderen Fall ein Erstdruck erwähnt). Nichts zum Entstehungsdatum, nichts zum Status. Die Erwähnung des „Weichtiers“ könnte auf das Ende der 80er hinweisen. Da in anderen Fällen Übersetzer angegeben sind, scheint es sich um einen Originaltext zu handeln. – Ist so etwas eine seriöse Textgrundlage? 1.12.2013

Kalkulation und Stimmung

Flusser, der listig Fragende, der seine „Hinterlist“ selber wiederholt betont, ein Zauberkünstler – und wirklich mehr? Wer nur fragt, hat immer Recht, so scheint es. Wie steht es aber um die Voraussetzungen dieses Feuerwerks an Fragen? Etwa das zu Anfang kokett formulierte Bekenntnis Flussers: „wenn man (wie der Verfasser dieses Textes) für das Spielen mit Zahlen nicht kompetent ist“ (111), wo er doch durchgängig die mathematische Formulierbarkeit des Themenkomplexes voraussetzt und propagiert? Da hat er – entsprechend seiner Beschreibung individueller Kompetenzen (112-13) kaum mehr als eine „Minimalkompetenz“ in Mathematik, demonstriert aber grenzenloses Vertrauen in deren Problemlösungskompetenz in Verbindung mit Computern. Er spielt schon mal rhetorisch mit „einer hic et nunc erfundenen Skala“. „Das aufregend Neue an diesen Fragen ist, dass sie quantifiziert werden können.“(113) –  Die Tatsache? die Vermutung? die Wunschvorstellung?

Die Frage ist begründet, denn seine Problemstellung (113 unten) enthält einige Herausforderungen: sehr große „Spielkompetenzen“ (Repertoire mal Struktur, 111), die auch noch in einem Feedback-Verhältnis ineinander greifen (interessante Metapher!). Und dann verschieben sich diese Kompetenzen überdies als offene Spiele. Was heißt unter solchen Bedingungen quantifizieren? Sind die notwendigen Großrechner bereits in Sicht? Kann es sie geben, wenn sie wirklich alle jemals und in aller Zukunft gesetzten Möglichkeiten (113) berücksichtigen müssen, wenn sie also Spiele mit Namen Markt oder Gesellschaft (111) in allen Verästelungen bis zu deren Ende virtuell verwirklichen (112) bzw. antizipieren müssen? Wie ist das mit der mathematischen Unendlichkeit? Ist das nicht ein Grenzbegriff, der sich immer entzieht?

Die Kombination einer essayistischen Rhetorik und ihren metaphorischen Formulierungen wie „Stimmung in der Kulturlandschaft“ (111), „kulturelle Stimmung“  einerseits – mit darin eingebetteten Spuren spieltheoretischen Kalküls und kalkulatorischer Entwürfe ist für mich mindestens zwiespältig. Schließlich handelt es sich ja nicht um die Selbstverständigung oder gar um Erklärungsversuche eines Mathematikers.

Dann folgt die Rückkehr aus der Sphäre der mathematischen Spieltheorie, die nach VF ihre Reinheit der Formeln, ihre exakte Schönheit verlieren, wenn sie rhetorisch umschrieben werden, was Flusser gar nicht vermeiden will, denn Umschreibungen erlauben Konnotationen und Assoziationen (112), ermöglichen sein eigentliches Spielfeld. Also bleibt ihm nur die Rückkehr in die chaotische Turbulenz einer Kulturszene oder ökologischen Szene. (114)

Warum  hält VF eigentlich daran fest, dass beide Szenen trotzdem quantifiziert werden können, wenn es auch praktisch in voraussehbarer Zukunft nicht machbar ist? (114) Welchen Nutzen zieht VF aus der Tatsache, dass die Spieltheorie im Prinzip gestattet, ästhetische Phänomene zu quantifizieren? (114) Ein zweites Beispiel (115) wird weiter unten erläutert und endet in dem Satz: (Auch dies lässt sich im Prinzip exakt quantifizieren). Zukunftsaussichten müssen VF die Lizenz geben, Malerei  oder Fotografie, Musik (113) oder literarische Sprachspiele (112) mit den Begriffen geschlossener relativ schlichter Strategiespiele zu beschreiben.

Er gibt vor, von einer Veränderung der kulturellen Stimmung zu reden: Und doch beginnt sich herumzusprechen … Er tritt als Sozialwissenschaftler auf, will die Sozialtheorie beerben. (111). Er ist ein Agent, Propagandist eines solchen ‚Stimmungswandels’. Traditionelle Vorstellungen müssen in dieser neuen Stimmung umgestellt werden. (114) – Schon der Satz selbst ist philosophisch unanständig. Wer sagt das denn, außer Ihnen, Herr Flusser, und eine bis zum nächsten Paradigmenwechsel (Kuhn) herrschende ‚Szene’?  Wollen Sie deren Wortführer werden?

Picasso – eine Umformulierung

Das Beispiel Picasso (114 unten) ist einem total unzulänglichen Computer – nach Programm wie Speicher – nachgebildet, erscheint geschickt ausgewählt. Picassos Produktionsweise – und die daraus entstandenen ‚Perioden’ ( blau, rosa, Kubismus, usw.) – seine Strategien der Übernahme, Montage, Verfremdung, generell des Recycling sind repräsentativ für die generellen Strategien der Klassischen Moderne. Das zeigen zahlreiche auch erst in den letzten Jahren erschienene kunstwissenschaftliche Studien, etwa: Rubin: ‚Primitivismus’, ‚Picasso und die Fotografie’, ‚Picasso und die Tradition’ (Buchtitel) u.v.m. Das könnte VF gewusst haben (115 oben), doch bezog er sich bekanntlich nicht auf  kunstwissenschaftliche Forschungsergebnisse (so: Marburger-Diss. S.184), so wenig wie ihn sozial- und mentalitätsgeschichtliche  Zusammenhänge interessierten. Es scheint ihm allein um den epochalen Stimmungswechsel oder eben einen ‚Paradigmenwechsel’ – 1962 von Thomas S. Kuhn beschrieben (in Flussers ‚Reisebibliothek’)- zu gehen.

VF behauptet forsch: Eine solche Vorstellung erlaubt im Prinzip, die Kompetenz Picassos für Malerei exakt zu quantifizieren. (114 unten)  Im Prinzip? Warum so eilig, wo doch die mythische Vorstellung von dem in Einsamkeit aus sich selbst (also aus nichts) längst nicht mehr in Mode  ist? In dieser Hinsicht sei  das Picasso-Beispiel belanglos, aber dass der Künstler ein Spieler ist, der auf die Züge anderer nach einer Spielstrategie antwortet, damit wieder andere danach ziehen …. (115) Was macht VF da?  Sein Picasso war ein bunter Luftballon, der schnell zusammenschnurrt. Er hat seine Aufgabe erfüllt.

Wieder einmal wird ein plakativ eingeführtes Phänomen bis auf ein einziges Element entkernt – vgl. Die Geste des Malens – ehrlich (Gesten 86-100) – diesmal auf eine äußerst rudimentäre Form von Spiel, der er eine Schneeballstruktur (de.wikipedia.org/wiki/schneeballsystem?) nachsagt, eine Metapher, die ich dank der reversiblen Kabel als eine anarchische Art von Pingpong mit einer unbestimmten Zahl von Spielern deute.

Komponenten des angesprochenen Kommunikationssystems sind: Konkurrenz mit einem Vorbild, dessen Analyse mit dem Ergebnis der Übernahme oder einer künstlerischen Antwort, der es aber nicht anders geht als dem genannten Vorbild. Die Zahl der Spieler ist von Zufällen abhängig, wie auch die Dauer des Spiels. Dasselbe exerziert er für Liebesgedichte, dabei kommen Regeln für Liebesgedichte ins Spiel  wie diese Kette von Antworten auf Antworten gezielt zu strukturieren wäre (115)

Wozu solche Bemühungen? Der Ästhetik einer fernen Zukunft schon mal eine Vorgeschichte zu entwerfen?

Wenn Künstler immer gespielt hätten, einen Aspekt, den niemand bestreitet, dann innerhalb verbindlicher Regeln. Das deutet auch VF an. Dass diese anders als früher im 20.Jh. nicht in Frage stehen, setzt er voraus, spricht dann flugs von einem neuen Problem und von Künstlergruppen als einer ersten Annäherung zur Lösung dieses Problems. Damit sind wir beim – mehr oder weniger kontrollierten und gewollten – Orientierungsverlust der Moderne, den der Leser für VF im Kopf bereitstellen muss. Das Modell einer auf die Züge anderer antwortenden Spielstrategie wäre also nun zur vollen Entfaltung gekommen.

VF erwähnt auch die traditionelle Künstlerwerkstatt mit ihrer Verbindung von Hierarche und Arbeitsteilung, die sowohl die Rekrutierung des Nachwuchses wie auch die Steigerung der künstlerisch-handwerklichen Kompetenz bei mäßigem Veränderungstempo sicherte. (Vgl. auch Frank Willett in „Afrikanische Kunst“ 1998). Nun bleibt also nur die instabile Bruderhorde der Künstlergruppe, worin Lehrlinge sich miteinander vergleichen, durch Streiten ihre Kompetenzen dialogisch erweitern. und sich voneinander abgrenzen bei – am  Beispiel (?) von Gauguin und van Gogh festgestellten – sich großenteils überlagernden Kompetenzen. Müsste es nicht eher Inkompetenzen oder vermeintliche Kompetenzen heißen. Ich denke nur an die unter den Modernen und Zeitgenössischen übliche Pfuscherei mit Farben, Untergründen und applizierten Materialien, welche die Restauratoren zur Verzweiflung bringen. Die für den kommerziellen Erfolg bei Publikum und Kritik ausschlaggebenden Faktoren dagegen würde ich nur bedingt Kompetenzen nennen wollen.

Personalplanung

Still und leise hat VF die Kunstszene mit ihren Bauchschmerzen verlassen und ist zu den Ingenieuren und Software-Entwicklern übergewechselt. Fortentwicklung als Motor, als Ziel  – das wollen zwar auch moderne Künstler, das psychologische Modell der Selbstentwicklung ist bereits ein Muss für jede Karriere. Kompetenz ist ein zentraler Begriff, und VF hat ihn aus der zeitgenössischen Diskussion! (Vgl. Gelhard: Kritik der Kompetenz)

VF zählt für die ästhetische Kompetenzerweiterung auf Künstlergruppen, die aus unterschiedlichen Kompetenzen aufgebaut werden (!) sollen. Faustregel: Ein Dialog ist desto ergiebiger, je größer der Unterschied zwischen den darin beteiligten Kompetenzen ist, allerdings nur bis zu einem kritischen Punkt, von dem ab jede Kommunikation abbricht. (Auch dies lässt sich im Prinzip exakt quantifizieren). (115) Dies könnte als Traum einer normalen Personalabteilung für die Kreativteams der Firma formuliert sein. In Flussers Beispiel, ein synthetisches Bild eines nicht existierenden Weichtiers (wir ahnen schon) herzustellen, werden ‚Medienkünstler’ zu museumsdidaktischen Designern in einem Kommunikationsstudio. (115) Künstlergruppen müssen also aus unterschiedlichen Kompetenzen aufgebaut (!) werden, und der kritische Punkt muss vermieden werden, falls (!)  die Absicht besteht, die Spielkompetenz der Beteiligten zu erhöhen.

In Flussers Team nimmt vielleicht sogar ein Philosoph teil. Die Kompetenzen, die ihm VF beilegt, wären interessant. Die KompetenzPhilosoph’ gibt es ja inzwischen. Die Seltenheit derartiger Künstlergruppen wird eigens festgestellt, obwohl auf dem Gebiet anderer Spiele (etwa auf jenem der wissenschaftlichen Forschung, der technischen Produktion, der wirtschaftlichen Planung oder der politischen Entscheidung) sie bereits überall anzutreffen sei. (115/16)

Warum Künstler?

Warum also ausgerechnet ‚Künstler’, außer dem Publikum des Aufsatzes zu suggerieren, der Autor VF interessiere  sich speziell für sie? Vielleicht auch zur Legitimation  dafür, dass er sich die Hälfte des Vortrags bei ihnen herumgetrieben hat? Was ist denn Besonderes um die Kunst? Außer Spiel nichts – so nach Flussers Feststellung: aus sich selbst (also aus nichts) (114). VF ist bereits woanders: Er sieht die Grenzen zwischen Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik usw. (sich) verwischen (116) Ich konstatiere: Die Kunst  ist gerettet, beziehungsweise dialektisch aufgehoben, wie Hegel sagte. Der späte VF etwa des Tschudin-Interviews (1991) müsste sagen: Vergessen wir sie. Ich spucke auf die ganze Sache. Ich bin Anarchist. Dann frage ich mich: ‚Muss’ denn in allen Tätigkeitsfeldern von Menschen nach den avanciertesten Strategien gespielt werden? Darf es keine Bereiche geben, in denen Menschen uneffektiv mit nichts spielen?  Ich glaube, die Welt ist voll davon, eben absurd, wie VF anderswo immer wieder formuliert.

Hat VF die totalitäre Logik der Selbstperfektion (Gelhard) und der großen Transparenz wirklich durchschaut, wo er sie so entschlossen  verbreiten will?

Zweitens muss die gegenwärtige Trennung der Gesellschaft in Produzenten, Konsumenten und Kritiker von derartigen Gruppen abgeschafft (!) werden. (116) Unklar ist: Einerseits Kunst, Wissenschaft, Technik, Politik. Diese Trennung als eine unangemessene theoretische Ansicht wird sich gegebenenfalls von allein abschaffen, aber was haben diese Gruppen wiederum mit denen der Produzenten, Konsumenten und Kritiker zu tun. Sind sie auch ein Produkt eines ‚falschen Bewusstseins’? Eigentlich will VF doch nur das utopische Bild von ineinandergreifenden Gesellschaftsspielen vermitteln und schmackhaft machen. Dabei kann er sich nicht entscheiden zwischen Normsetzung und Feststellung: man beginnt zu spielen, etwas ist in oder aus der Mode (114), Trend oder Mega-out.

Müßige Ziele ?

Unklar ist (116), ob es ihm um die utopischen Inhalte der Vorstellungen geht, die sich für mich nicht von technokratischen Konzepten unterscheiden, oder um den ‚neuen’ Standpunkt, den die, der Spieltheorie entliehene neue Begrifflichkeit ermöglicht. Naiv landet er da, wo die technokratische Psychologie uns haben will: Labels wie Kunst sind für den einzelnen Spieler ohne Bedeutung: Er nimmt an verschiedenen Gruppen teil, um seine Kompetenz zu verwirklichen, zu erweitern und neue dazu zu gewinnen. (116) Auf diesem technokratischen Grundgerüst träumt er dann, es gebe sehr unterschiedliche Kompetenzen – die müssen sich aber wohl anders definieren als die im von ihm beschriebenen Team, denn im System soll das Gegenteil der Gleichschaltung der Fall sein – dass die Ausbildung dieser unterschiedlichen Kompetenzen irgendwie garantiert ist. >Schule<, die er überall in der Gesellschaft lokalisiert und über die antike >scholé< mit Muße assoziiert. (ebd)

Ein spielendes ist ein müßiges Leben, mit dem Ziel, kompetent zu werden. Das ist ein müßiges Ziel. Ich konstatiere: ineffektiv, vielleicht sogar ‚nachdenklich’? (Rüdiger Zill: Der Antike nach-denken. Die Anekdote von Thales und der Magd als Paradigma eines narrativen Philosophierens. Vortragsmanuskript 2013)

Ein müßiges Ziel? Ein überflüssiges, wie der zweite Sinn des Wortes nahe legt? Ein leeres? Wie unterscheidet sich diese Atmosphäre aber von der bisherigen Gesellschaft? Dort ist das Leben überhaupt ziellos. (16) – Ich erinnere die Stelle aus „Häuser bauen“, wo die Leute aus Ruinen in ihren Autos ziellos herumfahren. Aber wir wissen doch, wohin sie fahren, und sie wissen es auch. Träumt VF von einer schönen Ziellosigkeit, ästhetisch perfekt, sozial wunderbar kommuniziert? Vielleicht untermalt von Musik, die kreative Künstlergruppen immer betörender am großen Computer entwickeln? Dank des Beitrags der Maschinen brauchte es keine langweiligen Redundanzen zu geben.

Ich will Ihnen eine Anekdote erzählen: Als ich mit über dreißig endlich Fahrstunden nahm, traf ich auf einen eigenartigen Fahrlehrer. Beim Wechseln von Grün auf Gelb passierte es ein paar Mal, dass ich auf die Bremse trat, der Wagen sich jedoch beschleunigte und über die Kreuzung fuhr. Ein traumatisches Gefühl. Der Fahrlehrer hatte das zweite Gaspedal bedient. Wir können in den teuersten Autos inzwischen Automatiken erleben, die uns als Fahrer überflüssig machen. Der Dialog mit Navi und Automatik ist bereits Alltag. Spaß am Fahren? Werden wir nicht schon heute vom Display gewarnt, unsere Aufmerksamkeit nicht von Radio und Smartphone ablenken zu lassen? Statt sich zu engagieren, beginnt man zu spielen. Soweit hat er Recht behalten: Das ist für mich schlechte Realität – und dumm, auch dumm (Flusser). Komfortable Massentierhaltung. aber Utopie ?

Über das katastrophale Verhältnis seiner Theorie zum Körper hat er in seiner „In die Welt der technischen Bilder“ sich freimütig und ironisch geäußert.

In „Unsere Arbeit“ bedauert er das Verschwinden der Arbeit und informiert, dass wir mit der dazu motivierenden Unzufriedenheit selbst die Barrikaden gegen den Tod schleifen. Als mehrjähriger Ruheständler kann ich das bestätigen. VF scheint am Ende seines Lebens jeden Widerstand aufgegeben zu haben und sich treiben zu lassen, Flüchtling, so wie er ihn in Für eine Philosophie der Emigration (in: Freiheit des Migranten) beschimpft hat, sich zu arrangieren, , sich desengagieren, Kapitulant, morbid bis in die Knochen.

5.12.13  spät