Tropischer Barock – und heute?

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Kulturkritik mit Vilém Flusser

Flusser Verteidigung des tropischen Barock 1966 als naive sündhafte Nachahmung  des wahrlich dekadenten, hohlen europäischen Vorbilds, einer überalterten Kultur,… die in der Illusion die verlorene Wirklichkeit sucht, und dies bewusst tut  (nach Guldin 2005 : 51 – 52).  

Alles daran ist Anmaßung, alles Fiktion und Bühnenbild (..), wenn auch Kulissen von grandioser Schönheit“ (Barocco Mineiro)

Vitalität stellt er in ihren stümperhaften Übertreibungen fest, er sieht den neuen Menschen als Säugling (57). Ich muss dabei an die naive Adaption von jungen Chinesinnen der dekadenten westlichen Mode auf den Straßen von Provinzstädten1988 denken! Doch eigentlich kam ich stracks zum europäischen Materialismus der barocken Epoche und zur entstehenden Pornografie (als Körper- und Beziehungsmechanik) – und natürlich im relativ zentralisierten  Frankreich zu dem sich steigernden Würgen im Hals der unteren Klassen: der vorrevolutionären Situation.

Wir leben mehr denn je in Zeiten der Verkleidung und der historisierenden Fassaden – Hat das nicht sehr bald im 19.Jh. wieder angefangen? –  auch von Begriffsfassaden, beispielsweise ‚Wertordnung’ und ‚Europa’! Ich erinnere mich noch an meine Empörung angesichts des ersten ‚entkernten’ Gründerzeithauses gegenüber der Frankfurter Oper. Inzwischen hat sich der Denkmalschutz zu einem Fassadenschutz gemausert und ist mit dem UNESCO-Kulturerbe, mit einer Unzahl sogenannter ‚Märchenstraßen’, ‚Straßen der Romanik’ usw. aufgeblüht. In der VR China verlief der Prozess ganz schamlos: der Tourismus konnte nicht einmal die Traditionsreste retten. Die werden abgerissen und von modernen Imitaten ersetzt, die gleichwohl Touristenströme wie die Fliegen anziehen.

Die globale Architektur konkurriert in exzentrischen luxuriösen ‚Wahrzeichen’. Unter dem Begriff der ‚Urbanität’ verwandeln sich weltweit Innenstädte zu Konsum- und Freizeitparks. Privilegierte Wohnviertel werden dekorativ zur ‚Kommunikation’ aufgerüstet. ‚Cover-Version’, ‚Post-Produktion’ sind gleich gerichtete Trends. Wir hätten gewarnt sein sollen, als man uns die ‚postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft’ verkündete.

Zugleich entstehen gegenläufige Sehnsüchte in den Gesellschaften: nach Gotik, Romanik, den Erscheinungsformen des authentischen Arbeitslebens (Jeans…), nach Naturformen und nach traditioneller Autorität.

Auch ‚Denker’ kommen ins Recycling. Ich irrte mich, als ich in den achtziger Jahren ‚Reaktion’ und ‚Verrat am Fortschritt’ witterte.  Der Apparat schmückt sich mit ihnen. In jedem Kulturkreis sind es  andere Namen. Indem er sie dem Wissenschaftsbetrieb – gegen Vergütung der Mühe – überlässt, entschärft er ihre Botschaft, denn der ‚destruiert’ sie dermaßen, nimmt sie auseinander, bis nur die Begriffsfassaden übrig sind, dass nur ein Rauschen vernehmbar ist. Als Individuum sollst du sie so wenig naiv und unmittelbar lesen wie die  Artikel des Grundgesetzes. Bitte nur mit anerkanntem Kommentar und zu lizensierten Zwecken! Wie Blattschneiderameisen fallen die Wissenschaftler über Hinterlassenschaften her, um deren Archivierung in modernen Reliquiaren man sich erbittert streitet.

Schließlich braucht der Betrieb ständig Material für seine Diskussions- als Zersetzungsprozesse, die um Karriere konkurrierenden Wissenschaftler neues, weil vergessenes Material, das zur exklusiven ‚Wiederaufbereitung’ geeignet ist und einen möglichst unverwechselbaren Geruch besitzt, eben Charakter. Denn zur Entwicklung eines Charakters brauchte es Zeit und eine gewisse Isolation, die der sich im Betrieb verschleißende Forscher heute nicht mehr leisten kann.

 

Wir komme ich auf die bizarren Gedanken?

Sie wurden durch eine Rezension vermittelt, die Rainer Guldin „Philosophie zwischen den Sprachen“ (Fink, München 2005) die nötige „Kontextualisierung“ abspricht. Guldin seinerseits betont am Anfang des 2. Teils Flussers „hybride Übersetzungstheorie“ (75) vor deren „explosive(m) Wachstum“ und Entwicklung „zu einer eigenständigen Disziplin“ und warnt den Leser davor, dass „Flusser, der seinem frühen theoretischen Konzept bis zuletzt treu (! DvG) geblieben“ sei und die weitere Entwicklung der Debatte „nicht mehr rezipiert“ habe. Ich hätte gern gewusst, warum es für ihn Sinn machte, dem Konzept noch weitere 170 Seiten zu geben. Ein paar Seiten weiter hebt er indessen „Flussers Verwandtschaft mit den kulturkritischen Positionen der 80er und 90er Jahre“ (76) hervor und verweist auf seinen eigenen Kongress-Beitrag. Ich habe ihn im Netz aufgesucht und fand ihn unter vielleicht fünfzig weiteren Beiträgen. Was für eine Hektik, was für ein Stimmengewirr! Die Geisteswissenschaften haben das Handicap‚ ihre ‚Erkenntnisse’ durch keine andere Methode zu bestätigen als durch das Palaver und die Meinungen, die sich darin durchsetzen.

Worauf kommt es nun also an? Vorn an der Spitze der Diskussion mitzumischen oder geduldig Texte zu verstehen zu wollen, in ein spezifisches Textgewebe einzudringen? Dieses scheint heute schädlicher Luxus zu sein, denn damit kommt man persönlich nicht weiter. Man „bekommt vom Rezensenten zwar gute Fleißnoten“ (Ralf Konersmann,SZ, nach www.perlentaucher), aber hat die wohl selbstverständliche Aufgabe nicht „erledigt“, etwa die, „Flusser in den Kontext des 20.Jahrhunderts zu stellen und seine Belastungsfähigkeit zu erproben“. „Belastungsfähigkeit“ – Was für große Luftballons.

Stand: 4.9.09

 

Kommentar 11.1.2014

Ich griff (2009) ohne klare Übersicht Flussers kulturkritische und Brasilien-enthusiastische Phase auf und fand vieles richtig darin. Ich wollte nicht die generelle Überheblichkeit Flussers gegenüber allen Wissenschaften wahrhaben. Ich hielt gutwillig an, wenn ich nicht weiter kam.  ‘Anschlussfähigkeit’ hat Flusser wohl selber nicht beabsichtigt (undatierte Texte ohne Referenzangaben fand er für sich passend). Doch auch ‚Belastungsfähigkeit’ ist ein brauchbares Instrument, um den Ertrag eines Denkens zu erfragen.

 

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