‚Die Geste des Malens‘! – ehrlich?

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Die Wiederbegegnung mit dem mir lange bekannten Text aus dem noch von Flusser 1991 komponierten (editorische Notiz) Buch „Gesten“ verlief leidenschaftlich. Seitenangaben nach: Fischer Wissenschaft 12241, 1994 S.97-99.

Er ist ein Neuerer, ein Neutöner, ein Barbar, der von Null anfĂ€ngt. Er wirft den ganzen Spieltisch um wie schon andere Avantgardisten vor ihm und fĂ€ngt das Spiel neu an. Deshalb muss er ja auch niemanden zitieren und explizit kritisieren. So etwas hĂ€lt bloß auf. Wie er uns bald gesteht, ist es egal, wo er angefangen hat. Am Anfang stand eine vage Vorstellung, die durch Hin- und Herdrehen Konturen und Aura als Enigma (91) gewinnt. Wittgenstein II ! Deshalb hat er den nicht gelesen, er wĂ€re vor Ungeduld wahnsinnig geworden.

Paul Feyerabend sah auf dem Feld der Naturwissenschaftlern solchen RevolutionĂ€ren gleichmĂŒtig und mit Sympathie zu, zuletzt im Interview auf der Terrasse seiner römischen Wohnung. Sie können unter den rigiden Erfolgskriterien ihrer Zunft auf die Dauer aber auch keinen großen Schaden anrichten, höchstens ein paar Millionen Fördergelder verbraten. Ideologische, weltanschauliche KollateralschĂ€den sind weniger zu befĂŒrchten. In den Geisteswissenschaften und in der Philosophie sieht es schon anders aus. Die Weckung unbestimmter Bereitschaft hat sich angesichts der Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts als besonders gefĂ€hrlich erwiesen. (Dazu Schlaffer : Das entfesselte Wort – Nietzsches Stil und seine Folgen, Hanser MĂŒnchen 2007)

Ich lese den Essay Geste des Malens und werde  – anders als vor Jahren – bald des Hin- und Her seines Sprachspiels ĂŒberdrĂŒssig. Sind neue Philosophien Biotope des Sprachspiels? Woraus zieht es seinen Zauber fĂŒr so viele Köpfe? Die vielen gescheiterten frĂŒheren Glasperlenspiele und Inszenierungen von Aufbruch scheinen sie nicht irre zu machen. Und findest du nur das Zauberwort… Erlösung wie im MĂ€rchen. Das wĂ€re eine denkbare Quelle der Faszination. Wir sind Gesten (97).  Ja dann! Und wenn es so weiter geht: Wir sind nicht allein in der Welt und wissen davon, weil rings um uns die Gesten der anderen auf uns deuten, kann man sich aus dem phĂ€nomenologischen Befund in eine menschenfreundliche Predigt mit moralisch-positivem Ausgang versetzt fĂŒhlen.

Und wir werden uns bedeutsam. Pinselstriche, Fußbewegungen, Augenblinzeln des Malers werden in der Betrachtung als Gesten mit Bedeutung aufgeladen. In der Politik heißt eine entsprechende Aufladung ‚Symbolpolitik’. Der Maler wird in der Geste des Malens wirklich, weil sein Leben darin auf ein VerĂ€ndern der Welt abzielt. Es zielt auf das zu malende GemĂ€lde und durch es hindurch auf die anderen , die mit dem Maler da sind: auf die Zukunft. (97/98)

Die Vermutung bestĂ€tigt sich bald: Bedeutung haben, Bedeutung geben, die Welt verĂ€ndern und fĂŒr den andern da sein sollen den gleichen Umstand ausdrĂŒcken, das alles heißt frei sein“ (98). Erst nachtrĂ€gliche ErklĂ€rungsversuche unterscheiden an ihm ontologische, Ă€sthetische und politische Funktionen. Konkret ist die Freiheit unteilbar: sie ist die Form, durch die wir erkennen, dass andere mit uns in der Welt sind. (98)

Die Sache hat fĂŒr mich zwei negative Aspekte:

1  Auftritt Flussers als Prophet der Abrissbirne

Flussers Beginn bei der Geste des Malens war wieder einmal willkĂŒrlich – didaktisch oder rhetorisch –  gewĂ€hlt. Die plakatierten Themen sind nur FlötenklĂ€nge des RattenfĂ€ngers fĂŒr Leser, die darin Neues ĂŒber die Welt erfahren wollen. Das ist ein harmloser Trick, auf den niemand lange hereinfĂ€llt. Das nĂ€chste Mal? Flusser scheint zu vertrösten: Die Bedeutung der Geste des Malens ist das zu malende Bild. Von ihm war in diesem Essay wenig die Rede, weil hier die Absicht verfolgt wurde, die Aufmerksamkeit auf die Geste selbst zu richten. (…) Das gemalte Bild ist die erstarrte, gefrorene Geste. (99) – Verschiedene fahrbare Treppen an immer denselben Flieger anzudocken, so habe ich phĂ€nomenologisch nicht verstanden. Haben unsere TĂ€tigkeiten keine eigene WĂŒrde, bieten sie der Reflexion etwa keinen ernstzunehmenden Widerstand, der zu ihrem VerstĂ€ndnis die intensive BeschĂ€ftigung nötig machen wĂŒrde? So kann man getrost ĂŒber alle PhĂ€nomene, denen man Lippenbekenntnisse leistet, hinweg reden und sich dabei wohl fĂŒhlen. Ein paar Zeilen spĂ€ter schwingt der Meister schon drohend die Abrissbirne, hebt demonstrativ die Krallen seiner angestrebten Theorie: GĂ€be es eine allgemeine Theorie des Gesten, eine semiologische Disziplin, welche gestatten wĂŒrde, Gesten zu entziffern, dann wĂ€re Kunstkritik nicht wie heute, eine Sache der Empirie oder der ‚Intuition’, oder ein kausales WegerklĂ€ren der Ă€sthetischen PhĂ€nomene, sondern eine exakte Analyse der zu GemĂ€lden erstarrten Gesten als Choreographologie. (99)

Uff!  Was fĂŒr eine groteske sprachliche Verbindung : Hier GemĂ€lde (GĂ€be es keine passenderen Genres seit dem 20.Jahrhundert?) und dort exakte Analyse im Sinne einer exakten  Lehre von deren Choreographie. In einem Maschinenballett der Pinselstriche. Das hatten die Bolschewiken noch nicht erfunden! Und wieder der Traum einer totalen Durchdringung der Praxis, der Empirie, der KreativitĂ€t und so weiter durch allgemeine Theorie. Wenn das nicht totalitĂ€r ist! Als megalomane Phantasie.

Schließlich der auf sibyllinische Art versöhnliche Schluss: In Ermangelung einer solchen Choreographologie solle man als bessere Strategie (?) die Geste selbst beobachten, so wie sie sich konkret vor uns, und daher in uns, ereignet: als ein Exempel der Freiheit. – Als Exempel! – Es bedeutet zu versuchen, die Welt mit neuen Augen anzusehen, ohne die Brille der objektivierenden und abstrahierenden Vorurteile, die uns von unserer Tradition aufgesetzt wurde.

Man darf wohl fragen, wozu? Als zweitbeste Lösung, um die Tradition, die hier opak die ‚böse’ Rolle spielt, schon mal weiter zu lockern? Dann (…) leuchtet die Welt wieder im Glanz der konkreten PhĂ€nomene. Sie soll es dĂŒrfen unter futuristischen Vorzeichen, einer Zukunft der permanenten ‚Optimierung‘ auch dessen, was ‚in’ uns sein mag, etwa des Ă€sthetische Empfindens. Flusser beweist jedenfalls, dass er als RevolutionĂ€r durch keinerlei innere Bindung an einzelne kulturelle Gesten gehemmt ist.

 

2. Quietismus.

Alles wird noch gut, wenn wir es nur im richtigen Bewusstsein tun! Ganz mein Eindruck von der Stimmung in zeitgenössischen Kunstgalerien, wo mir ebenso Assoziationen zu ‚Slow Food’ und anderen Formen der‚Entschleunigung’ kommen! Die Stimmung ist vielleicht sogar fernöstlich : synchretistisch, Ă€sthetisch und fĂŒhrt unter anderem zu mystischem Welterleben (96)

9.12.2013