Zukunftsvisionen ohne Schrift (FS 12)

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Hallo  Annika Berressem! Ich bin ein Nachbar von Ihnen in den Flusser-Studies 12 und  möchte nicht noch mehr Zeit verstreichen lassen, Ihnen mitzuteilen, was mir bei der Lektüre von „Zukunftsvision ohne Schrift“ berressem-zukunftsvision fs12 durch den Kopf gegangen ist. Es wird zu wenig diskutiert, auch in dieser Publikation.    

Ich fand es sehr sympathisch, dass Sie Flusser einem Praxistest unterworfen haben. Gut, dass Sie ausgehen von der Beobachtung, dass das Alphabet nicht ausgedient hat, aber der Charakter der Texte sich wandeln muss. Doch „knackig-prägnant“ greift nur einen Aspekt für den „Printjournalismus“ heraus. Ebenso wichtig ist das hier unterbetonte „übersichtlich“ in seiner vollen Bedeutung. Übersicht und Orientierung werden sogar heute dringlicher vom Qualitätsjournalismus verlangt, im besten Fall auch Sachkompetenz. Das lese ich z.B. immer wieder in der FAZ (Feuilleton). Kompetenz kann auch mündlich Verbreitung finden, sollte dann aber zum Nachhören und Archivieren geeignet sein. Die Öffentlich-Rechtlichen bauen schon vor! Was ist eigentlich an „Internetnachrichten“ so Besonderes?

Auch von der Individualisierung der Erwartungen muss man reden! Wir dürfen unsere ganz eigenen Fragen stellen, auch wenn die sich im nachhinein doch nur als typisch herausstellen sollten.

„Das fernsehträge Auge“?   Trägheit, auch geistige Bequemlichkeit,  ist nichts Neues!

Gut  finde ich auch das alltagsbasierte Setting „Universität“ für Ihr Gedankenexperiment.

Wenn Sie schreiben: „für die Nachbereitung bleibt die Schrift unumgänglich“ und: sie „vereinfacht es, neue Informationen zu verarbeiten und zu speichern“, scheint mir der Knackpunkt bei der „Verarbeitung“ zu liegen, wenn sie noch etwas mit begrifflichem Aufnehmen und Wiedergeben zu tun hat, nicht bloß mit einer Verknüpfung von der Art: „ Wenn folgendes Bild auftaucht, wenn sich die und die Ecke darin sich verfärbt, wenn die und die Muster erscheinen, dann….“ – Das wäre auch ‚verarbeiten’. Und ist das nicht bereits für viele Qualifikationen Teil der Ausbildung und der ständigen Fortbildung?

Dann sind wir bei ‚Melvi’ im Jahr 2040. Reizvoll: Wie Sie das schildern, soll sie ein „Studium“ absolvieren unter Bedingungen des Technototalitarismus, von Samjatin (‚Wir’ 1922) über Huxley zu Orwell literarisch beschrieben – aber technisch aktualisiert!

Bei Melvi kann man wohl von einem funktionalen Analphabetismus sprechen, der ihr erlaubt, Piktogramme zu ‚lesen’, sofern sie die nicht lieber gleich einscannt. „Per Fingerabdruck unterschreiben“ – das hatten wir doch schon. Und was dann der Minicomputer verwaltet, macht eine ganze vom Apparat konditionierte Existenz aus.

Was wird wohl „diskutiert“ beim „realen Treffen“ – wenn alle aus denselben Informations-quellen schöpfen? „Die Universitätsbibliothek“ besteht aus Dateien, die selbstredend ständig im Hintergrund aktualisiert, manipuliert werden.

In den fünfziger und sechziger Jahren mussten die ostdeutschen Kommunisten zu diesem Zweck noch ‚Giftschränke’ mit eingeschränkter Zugangsberechtigung organisieren und große Mengen nicht mehr opportune Bücher loswerden, etwa, weil die Parole der Wiedervereinigung Deutschlands aufgegeben worden war. Sie exportierten sie auch in den Westen, wo ich ihnen im Antiquariat begegnete.

„Wikipedia“ ist 2040 natürlich nur noch eine Fassade. Keiner weiß mehr, was sie einmal war.

Was soll Melvi mit Nahrungsmitteln anstellen? Ich würde sie einfach in die Kantine schicken. Und warum sollte sie denn „zu Hause“ arbeiten? Was gibt es denn da Besonderes? Da ist sie ja isoliert. Die phantasierte Luxusuniversität wird doch wohl etwas Bequemlichkeit bieten.

Dann weisen Sie auf die unterschiedlichen Qualitäten menschlicher Sinne hin. „Überblick“ heißt nicht umsonst so! Auf den Gesichtssinn wird man zugunsten des Gehörs nicht verzichten. Aber was sollen „Randnotizen“?  Wenn Melvi nicht weiter weiß, aktiviert siedie Hilfsfunktion oder verlangt ein weiteres Beispiel. Der Apparat ist natürlich interaktiv und wiederholt ohne Probleme, bis die Information ‚verstanden’ ist.  Jeder derartige Prozess wird vom ‚intelligenten’ System zu seiner Vervollkommnung verwendet werden. Flusser hat das ‚Feedback’ an der Weiterentwicklung etwa von Fotokameras illustriert

Ein wenig Lesen und Schreiben neben anderen neuen Techniken muss Melvi an der Uni aber lernen, nicht bloß, damit sie das System für sich nutzen kann. Sie will oder soll ja in der Kompetenz-Hierarchie aufsteigen.

Mit Recht weisen Sie auf die Überkomplexität („unvorstellbar“) zivilisatorischer Entwicklungen hin.

Dazu einen Vergleich aus der nahen Vergangenheit:  Die chinesischen Revolutionäre um Mao beabsichtigten lange, die chinesische Zeichenschrift nicht bloß zu vereinfachen, sondern zugunsten des lateinischen Alphabets abzuschaffen. Es gelang nicht –  wegen der völligen Verkümmerung der konsonantischen Endungen im Chinesisch und wegen regionaler Dialekte, aber heute reagiert das elektronische Wörterbuch „Wenquxin“ bereits intelligent  (wie Google: ‚Meinten Sie…?’) auf die Anfragen in Lautschrift. Und das ist nur der Anfang.

Am Ende hätte ich mir aber gewünscht von einer freien Arbeit und einer Publikation in den Flusser-Studies, dass Sie erkennen lassen, dass ein solches Szenario für Flusser auch ein Schreckensszenario war (wenn er nicht gerade ‚high’ war). Oder doch, was Sie selbst davon halten. Vielleicht teilen Sie es mir ja mit.  Mit freundlichem Gruß…                4.3.2012

Eine Antwort habe ich zu meiner Enttäuschung von der Studentin nie bekommen.  14.12.13

 

 

 

 

 

 

 

 

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