Huizinga ‘Homo Ludens’-Lektüre 1998

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 Notizen mit Blick auf das altgriechische Verständnis von ‘Spiel’ als ‘Agon’ – Seitenangaben nach der Ausgabe von 1956 als rde Band 21. (Unterrichtsvorbereitung  für Geschichte 11. Klasse)

 

1.

Homo ludens – Johan Huizinga hat 1938 ein radikales,  ein geniales Konzept! Ich hätte nicht gedacht, wie viel sich hinter  „Spiel“, „ludus“  verbirgt!  „Homo faber“ – wie harmlos, „homo oeconomicus“ – wie vordergründig, „Homo politicus“ –  wie missverständlich!

Der Mensch spielt, aber um Kopf und Kragen, und in den unterschiedlichsten Systemen, und  –  wie die berüchtigten Götter mit den armen Sterblichen!

„Agon“ – Wettstreit, Konkurrenz usw. – steht als unleugbarer „ewiger“ Antrieb so außer Zweifel, dass sich die Aufmerksamkeit sofort auf einen entsprechenden „Gegenspieler“ richtet, an dem sich das Schicksal der Gruppen und Systeme entscheidet.

2.

Mein Interesse gilt dem „europäischen Sonderweg“ und seinen angeblichen „Wurzeln“ in der griechisch-römischen „Antike“. Erste Bilanz aus dem 6.Kapitel („Spiel und Wissen“, S.105ff.):

Der „agonale“ Charakter des altgriechischen  Philosophiebetriebs war keine speziell griechische Eigenart, im Gegenteil: Fragen nach der Entstehung der „Welt“(„kosmogonische“)  sind  als „primäre Beschäftigung des menschlichen Geistes“  wie bei allen Kindern, so auch in allen Traditionen der Menschheit zu finden. So scheinen „heiliger Wettstreit“ oder das „Halsrätsel“* zum Kulturerbe der Menschheit zu gehören.

*Fragen mit dem Zweck, den Gegenüber in eine Zwangslage zu „bannen“, aus der ihn erst die „Lösung“ buchstäblich befreit, die aber nur aus der Kenntnis gewisser Spielregeln und eines  – verabredeten – Spielfeldes zu  gewinnen ist (S.111), an das „Satori“ des Zen erinnernd.

3.

Ein Gang in die Stadtbücherei belehrt mich darüber,  dass Huizinga in seiner scheinbar respektlosen Vorstellung der Weltstars der griechischen Philosophie eine Gratwanderung  macht,  mit der unbeirrbaren Geradlinigkeit einer Römerstraße durch unwegsames Gelände.

Er selber entschuldigt seine dringliche Eile im Vorwort von 1938. Auch mein Unterricht soll  eher Land vermessen, Schneisen schlagen und Wege bahnen als sogenannte Ergebnisse vermitteln. Falsche Erwartungen in meine Kompetenz muss ich aufklären. Positionen vertrete ich mit beschränkter Haftung in Raum und Zeit.

4.

Huizinga hat mir wieder den Blick geöffnet für eine  kreative und selbstbewusste kleine Nation der Hellenen an der Peripherie der Großmächte ihrer Zeit. Wie zog ich früher über Sätze wie „Wir Hellenen sind frei, die Barbaren sind Sklaven“ her! Der kollektive Dünkel der Griechen, viele Beweise von Neidkultur und sozialer Unempfindlichkeit hielten mich auf Distanz; der historische Ruhm von Athen schien unverdient… „Ein Strohfeuer leuchtet durch die Jahrtausende“ (Althistoriker Christian Meier) – grotesk! Sicher hat  meine Beschäftigung mit den Japanern den Meinungsumschwung vorbereitet!  Doch auch die  Kenntnis moderner Kleinstaaten wie Israel, der Schweiz oder Dänemark war nützlich.

– Faktisch hieß im 5. Jahrhundert die Bewahrung der Freiheit in den Perserkriegen, dass die Griechen des Kernlandes nicht kolonisiert wurden: Sie konnten ihre archaische Kultur in Freiheit zivilisieren im geistigen Raum ihrer Muttersprache. Sie konnten – ob in Sparta oder in Athen –  sehr eigenartige Problemlösungen ausprobieren und diskutieren, recht früh mit  den Möglichkeiten einer  entwickelten städtischen Öffentlichkeit. Das ausgeprägte Selbstbewusstsein gründete auf der militärischen Selbstbehauptung als politischer David gegenüber dem Perserreich (500-480 v.Chr.), aber auch auf wirtschaftlichem Erfolg (wozu auch die „Kolonisation“ gehört)  und der unbestreitbaren Emanzipation  von den ehemaligen Vorbildern  in Syrien, Persien, Ägypten. Spätestens mit Alexander wirkte der „Hellenismus“ sogar auf diese zurück.

5.

In dieser experimentellen Situation (verglichen mit den Bedingungen bürokratischer Herrschaft) gab es ein paar speziell wirksame Faktoren:

a

Vor allem mit der Auflösung der gentilen und aristokratischen Ordnung  war  „isonomia“ –  d.h. Kommunikation unter den Bedingungen der Gleichheit unter den Bürgern – immer allgemeiner akzeptiert. Das „Strohfeuer“ hat wohl als Impuls in den übersichtlichen Öffentlichkeiten ausgereicht, angesichts der engen Verbindung der Philosophen mit ihrem Gemeinwesen. Wenn Athen auch kein Philosophenstaat wurde, so doch ein Kleinstaat politisierter Intellektueller. Und im schlimmsten Fall bot sich bei den kleinstaatlichen Rivalitäten immer ein passendes Exil.

Gefährlicher war der „Wortkampf“ im höfischen Milieu: Huizinga nennt einen mittelalterlichen Fall für böse Folgen offenen Redestreits, ich erinnere mich an die Folgen der Diskussion unter Makedonen um „proskynese“ (höfischer Kniefall) vor den Ohren Alexanders des Großen!

b Huizinga S.38ff

S.67ff  Tugend areté war immer mit Wettstreit um die Anerkennung als Besten áristos verbunden.

S.68 beständiger Kampf um „Ehre“, beständiges Üben in der „Tugend“ von der homerischen Gefolgschaft an bis zur athenischen Staatsbürgerschaft.

– Das bedeutete auch eine Zivilisierung der archaischen Großfamilien durch ihre Einbindung als wirtschaftlich autarke Familien (oikos, domus) in die Gemeinde (polis).

Weitere Einzelheiten für die Tradition von Wettkämpfen auf allen Bereichen, die von den Griechen nach „Staat, Krieg, Recht“ oder nach „Kraft, Weisheit, Reichtum“ klassifiziert wurden:

S.72  Tradition festlicher und zeremonieller Schimpfwettstreite

S.76   Initiationsprüfungen für Jugendliche in Sparta

S.77  Trinkwettbewerbe in Symposien, vom Chorenfest her, manchmal mit Todesfolge

– Für mich wirft das ein neues Licht auf die Kultur der Exzesse, für die griechischen  Männer (soweit Adlige, Städter, freie Bürger) berüchtigt waren. ‘Auch auf den Wunsch mitzuspielen bei den “Banausen”, Handwerkern und Bauern. (vgl. die Diskussion um das Denkmal für die “Tyrannentöter” in Athen)

S.79f.  Auch der  Streit vor Gericht wurde als agon verstanden.

S.144  Philosophie erschien als „Frucht der freien Zeit“, also der Spielsphäre.

S.142ff  Sophisten wirkten als Schauredner in der Tradition Rätsel lösender Priester.

S.148  Zur Form des philosophischen Dialogs: Der Wortkampf war für die Griechen eine angemessene literarische Form zur Wiedergabe und Beurteilung einer heiklen Frage – zB  zwischen den Spartanern Archidamos und Sthenelaides zur Frage des Krieges gegen Athen 432 v.Chr.

–  Zum Bild der Hellenen gehört unbedingt die Wertschätzung des Auftritts und Vortrags, also der persönlichen Aura im  musischen Bereich gegenüber den bildenden Künsten, worin ihnen das abgewertete handwerkliche Element  zu stark hervortritt! Damit wird die moderne moralisierende Abwertung der Rennwagenbesitzer und Berufssportler in den Olympischen Spielen und an der Konkurrenz der „Schatzhäuser“, eher Schauhäuser der einzelnen Städte in  Delphi  altgriechischer Lebensart nicht gerecht.

6.

S. 147  Huizinga läßt Sokrates und Plato bewußt in dieser Sphäre agieren.

–  Anders als Paul Feyerabend, mit dem er die Parteinahme für die Kreativen teilt, sucht er nicht an Plato den Ursprung aller Übel der abendländischen Geistesgeschichte festzumachen und einen geraden Strich zur Diktatur der modernen Experten zu ziehen!

7.

Die Hellenen sind nicht schuld an ihrem zweifelhaften Bildungserfolg im Römischen Imperium und an der  Transformation in Byzantinismus einerseits, in  extrem verarmte Schulweisheit christianisierter germanischer Kolonialvölker andererseits.

 

(Text kontrolliert am 12.12.2013)

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