Nachwort 11. Mai
Mir war nicht so klar, welches Ansehen der Reporter Kapuscinski noch heute genießt. Natürlich konserviert das Netz auch noch die ersten Abwehrreflexe der Fans als taufrisch, z.B. Peter Münder für CulturMag (LINK). Inzwischen ist das Enthüllungsbuch bereits bei medimops im Billigkarton gelandet. „Jahrhundertreporter“ und Märchenerzähler war Kapuscinski noch erfolgreicher als 2017 Relotius vom „Spiegel“. Domosławski Anspruch auf „Wahrheit“ steht dem entgegen. Mich verstört der leichtfertige Umgang des Publikums damit. Dass die Witwe Kapuszinskis, die ihre Leidensfähigkeit nicht umsonst bewiesen haben wollte, Einspruch erhob, war legitim, aber die Absolution Kapuscinskis durch eine unbeteiligte internationale Lesergemeinde, die sich viel auf ihre angebliche Wahrheitsliebe einbildet? Hat der Biograf Artur Domosławski seine immense Arbeit nur für eine einflusslos verstreute Minderheit geleistet und dafür im zerstrittenen Polen seinen Ruf riskiert? Es sieht so aus, dass „Wahrheit“ sch….egal ist.
30.5.22
Der Umgang mit den Geheimdiensten war auch in der Biografie Thema, aber nur als subjektive Drohkulisse im komfortablen Ruhestand des Reporters. Vor dem aktuellen Hintergrund des Ukraine-Krieges kann ich das nicht mehr so harmlos abtun. Auch auf der Ebene der Medien wird gekämpft, mit Desinformation über das Geschehen, ständiger propagandistischen Mobilisierung der eigenen Reihen und mit dem Versuch der Demoralisierung der Feinde. Die Frage lässt mich nicht los: Wozu bekam dieser ‚unbezähmbare‘ Ryszard Kapuscinski von der Staats- und Parteispitze so umstandslos die gewünschten Reisepässe und Devisen? Er war als – im besten Fall – leicht entflammbarer Draufgänger mit kommunistischer Allgemeinbildung der ideale Mann für die damaligen Stellvertreterkriege. Und er ‚lieferte‘, auch wenn er manchmal frei konfabulierte.
*
Das Porträtfoto auf dem Schutzumschlag – natürlich undatiert – ließ mich während der ganzen Lektüre nicht los. Hunderte Male schaute ich es an, auch angesichts von über sechshundert gelesenen Seiten ungewöhnlich.
Irgendwann gelangen mir ein paarsystematische Notizen in der Muße eines Inselurlaubs. Dann wieder wollte ich bloß ein paar ‚vernichtende’ Zeugenaussagen abschreiben und zusammenstellen. Zu solchem Aufwand fehlte mir am Ende der Antrieb. Es gibt Wichtigeres. Und ich nehme an, dass mein Publikum Ryszard Kapuscinski längst auf die eine oder andere Weise zu kennen meint und sich die Biografie bei Interesse beschaffen kann. Drei ergänzende Links stelle ich am Ende zusammen.
Artur Domosławski: Ryszard Kapuściński. Leben und Wahrheit eines Jahrhundertreporters. Deutsch 2014, Rotbuch, Berlin. 704 S., 29,95 €.
Gliederung meiner Notizen:
- Das Buch
- Defizite von Kapuscinski
- Überraschung! Dieser unaktuelle Autor ist eine aktuelle Gefahr
- Was seine Texte an „Afrika“ vermitteln
- Bilanz (23.4.22)
- Etwa eine „Hagiographie! -Warum nicht? (29.4.22)
- Domoslawskis Rückzug vor der „politischen Biografie“
- Judas, die Figur
- Notwendige Ergänzung 1.Mai 2022 : Der „Claas Relotius“-Skandal 2017
- Links
LEKTÜREBERICHT
Die Biografie, das Buch
Eine solche Biografie habe ich noch nicht gelesen! Ursprünglich ein Bewunderer, blieb Domoslawski seinem Idol immer dicht auf den Fersen, las alle langweiligen Depeschen und kurzweiligen Bücher, interviewte ‚alle’ Bezugspersonen Ryszard Kapuscinskis im Kreis der ehemaligen polnischen Machtelite, ihrer publizistischen Erfüllungsgehilfen, und darüber hinaus seine Witwe, Freunde und Kollegen, aber auch Fachleute auf relevanten Feldern. Ohne sich auf allgemeinere Themen hin ablenken zu lassen.
Defizite von Kapuscinski
Der an der kommunistischen Bürokratie gescheiterte kommunistische Idealist und Aktivist der Stalin-Zeit, der einem bürgerlichen Verständnis von „Öffentlichkeit“ verhaftet blieb. Der Vasall des Systems, der für ein eingeweihtes Publikum die Kunst der Anspielung perfektionierte, aber sich seinem Land und Volk zwanzig Jahre lang entfremdete, bis er beide 1980 (‚Solidarnosc‘) ganz neu entdecken musste.
Sein ‚Kunstwille’ – Die erlebten Episoden und fremden Geschichten hat er zu austauschbaren Kieseln glattgeschliffen, mehrfach montiert und verwendet und schließlich im Buch „Lapidarium“ als zeitlose Weisheiten ausgegeben.
Von den üblichen Zwängen und Kontrollen eines gewöhnlichen Reporters (Was? Wer? Wann? Wo? Wie? Faktencheck) konnte sich Ryszard befreien, aber nicht vom verinnerlichten ‚internationalistischem’ Programmauftrag. Gut für ihn, dass er lange Zeit über naiv war, da er die gestanzten Worthülsen des Kalten Krieges ohnehin benutzen musste.
Ein Mann, der auch nach 1990 keine Kritik akzeptierte, Afrika später in nostalgischer Stimmung besuchte, Mao und China politisch aus Parteidisziplin ignorierte.
Er wollte als Junkie des authentischen Aufbegehrens in aller Welt den Kick immer wieder erleben.
Warum hat ihn aber die an ihren eigenen Bürointrigen erschlaffte Nomenklatura zuverlässig mit (knappem) Geld und Pässen versorgt? Weil er Stimmungsmache für die europäische „Linke“ betrieb – in den Regionen, in denen sich noch Sympathien gewinnen ließen – auf Stimmungen verstand er sich am besten, versichern verschiedene Zeugen. „Befreiungsbewegungen“ als Sympathieträger – Abbildungsschärfe wäre der Wirkung nur abträglich gewesen.
Ein provinzieller Revolutionstourist. Mit Unterstützung eines diktatorischen Regimes aus dem angeblich ‚befreundeten’ kommunistischen Teil des globalen Nordens schrieb er für ein provinzielles Publikum. Das in Polen war provinziell und das spätere in Deutschland ebenso.
Die auf den hunderten von Seiten auftauchenden Personen vermitteln den Eindruck, dass er zu einer großen Familie von Seilschaften gehörte. Kapuscinski – und damit wir Leser der Biografie – begegnen ihnen immer wieder und immer woanders. Das waren die Leute, die ins Ausland reisten und ihresgleichen den Weg bereiteten. Kapuscinski hat das ihn nährende System als „Hofstaat“ in „äthiopischen „ und „iranischen“ Verkleidungen beschrieben, wenn man den Recherchen des Biografen glauben darf.
Internationaler Ruhm war ihm wichtig; deshalb musste zum Beispiel die mexikanische Ausgabe von „Angola“ – die erste Publikation im „Westen“ – von ‚kubanischem‘ Spanisch gereinigt werden.
Überraschung! Dieser unaktuelle Autor ist eine aktuelle Gefahr!
Er passt zur aktuellen Zeitströmung enthemmter Moralisierung der Politik und zur schrecklichen Vereinfachung der Politik auf eine Front mit zwei Seiten.
Da fällt vielleicht auch der Rückfall in die Denkmuster des Kalten Krieges gar nicht mehr auf.
Er verklärte jeden Strategen oder Stümper an der Spitze ‚revolutionärer’ Bewegungen zum besonderen Menschen, strickte mit an deren Mythos, (S. 229 : Nkrumah, Che, Nyerere , ….), aus dem in Afrika die diversen nationalistischen Gründungsmythen wurden. Aus diesem Pool bedienen sich auch die neuen ‚kritischen’ antikolonialistischen Aktivisten.
Wie der trendige Betroffenheitsjournalismus heute pflegte er einen Kult der ‚kleinen Leute‘, die doch als unvermeidlicher Kollateralschaden zwischen den Fronten bewaffneter ‚Befreiungskämpfe‘ aufgerieben werden. Zu denen büxte er gern von den Botschaftsresidenzen und Pressekonferenzen aus, etwa um etwas Neues zu erfahren? Er musste wissen, dass die Revolutionäre die Zivilbevölkerung strategisch benutzten (‚Fisch im Wasser‘).
Er liebte beides: ‚Hintergrundsinformationen’ von oben und ‚Geschichte aus erster Hand’ von unten. Er war gegenüber seinen Informanten unkritisch, wenn ihre Tendenz ‚passte’ und sie farbige Erzählungen liefern, in Bars oder sonstwo. Das belegt Domoslawski durch glaubwürdige Fachleute.
So wie Kapuscinski ‚Literat’ sein wollte, war er Kolportage-Literat, der durch gewichtige Helden und den Ernst seiner Themen beeindrucken wollte.
Domoslawskis Kapuscinski-Biografie
Sie macht die für Nicht-Polen bisher (vor Google) unsichtbare ‚Brotarbeit’ der Berichte von Kapuscinski sichtbar, etwas wie ‚geheimdienstliche‘ Informationen plus Spekulation ‚aus erster Hand‘ für eine begrenzte Öffentlichkeit, und mit den gleichen Mängeln behaftet.
Darin leistet Domoslawski wertvolle Vorarbeit für eine ‚Verurteilung‘ der Person Kapuscinskis, vermeidet aber systematisch den Eindruck der Anklageschrift. Durch Aufteilung und Scheindiskussionen wird das Gewicht jedes einzelnen Vorwurfs relativiert, also verringert.
Es fehlt eine chronologische Übersicht seiner Tätigkeit – absichtlich? Um Spuren zu verwischen? – Niemand sonst hätte sie so einfach vornehmen können.
Ein hundertprozent „polnisches“ Buch: durch Name-dropping das „Who-is-Who“ einer bis 1990 bestimmenden Warschauer Szene.
Domoslawski will es wohl sich nicht mit seinen Informanten verderben, sie in ihren Handlungen und Urteilen nicht bloßstellen. Sie repräsentieren schließlich eine nicht unerhebliche Fraktion des heutigen Polen und eine Fangemeinde.
Also eine „polnisch’ perfektionistische Biografie konventionellen Zuschnitts: Sechshundert Druckseiten Hagiographie, auch wenn der Held vor der Hälfte schon ausgezählt sein könnte. Aus deutscher Perspektive ist das Buch vor allem als zeitgeschichtliche Monografie nützlich. In diesem Fall scheint mir – soweit ich sie 1976 und 1985-89 erlebt habe – die Atmosphäre gut getroffen und die Details zuverlässig.
Was Kapuscinskis Texte von „Afrika“ vermitteln:
Die beanspruchte Gesamtzuständigkeit und die Ruhelosigkeit eines ‚Fliegenden Holländers’ ließen sich nur realisieren mit der – undurchschauten – Ideologie des Panafrikanismus, verquickt mit den Legenden der philosophierenden Führergestalten wie Nyerere vom „afrikanischen Sozialismus“. Aber dann verhedderte er sich in der angeblichen Korruption der neokolonialen herrschenden Cliquen. Als reichte ein „Heiliger’“ wie Nyerere für den ‚Fortschritt’ aus, verstärkt durch die Veröffentlichung kritischer Berichten durch Ausländer. Oder ein politisierender „Dichter“ wie Neto.
Kapuscinski wollte aus Afrika ‚liefern’. Aus Westafrika schrieb er einmal: Die Lokalpresse ist „grauenhaft“, nichts als Prozessberichte, null Politik, ohne jede Meinung; „nichts aus dem man eine Depesche machen könnte“. „Hier ist schon alles gefestigt…. Ostafrika war ein revolutionärer Vulkan, Westafrika ist wie Schweden oder die Schweiz“ (249)
(238:) Die Revolutionsarmee des brutalen Karume übernahm auf Sansibar die Macht von der „neokolonialen Macht der arabischen Bourgeoisie“. K. war stolz, der erste Journalist vor Ort zu sein, weil er irgendwann mit Karume in einer Bar auf dem Festland ein Bier getrunken hatte.
Seine Bücher sind im konkreten Fall unzuverlässige Quellen, die ständig überprüft werden müssten, also für mich unbrauchbar. Und für normale unkritische Leser so schädlich, wie es eben Propaganda ist.
Kurz: Von allen möglichen Erklärungen der bei der Lektüre seiner Bücher festgestellten Mängel haben sich die schlimmsten bewahrheitet.
Bilanz am 23.4.22
Sein Ruhm ist Produkt des nationalistischen, aber auch cliquenhaften literarischen Personenkults in Polen. Das wäre ein eigenes Thema. In Deutschland scheinen die dominierenden Leserinnen schlicht ein zu tolerantes Publikum zu sein.
Ein prominenter Möchtegern-Literat, den Karl Dedecius nicht übersetzt hat, vielleicht weil der Linke nicht mochte? Oder weil ihn erst die afrikanischen und lateinamerikanischen Reportagen wenig begeisterten, und später nicht die Allerweltsweisheiten der Bücher. Oder einfach Kapuscinskis ‚Kleine Fluchten’ aus der grauen Realität Polens. Polanskis Parabeln und Hanna Kralls Reportagen etwa waren da ein größeres Kaliber, auch literarisch. Jedenfalls kein Revolutionskitsch für Couch potatoes.
Was wollte der Rotbuch-Verlag mit der Übersetzung? Was bedeutet der Untertitel „Leben und Wahrheit eines Jahrhundertreporters“? Und: Er gelte als „der meistgelesene Autor Polens“? Hat die Vertriebsabteilung die inhaltliche Entscheidung des Lektorats dem ‚Markt’ angepasst?
Der Lebenslauf eines ewigen Jung-Stalinisten und vom ZK gehätschelten Dritte-Welt-Clowns, der die nach 1956 irgendwann unvermeidbare Ernüchterung über Polen auf ein ganzes Jahrzehnt ausdehnte und nach 1990 noch zwei Jahrzehnte lang befürchtete, den Preis für die genossenen Privilegien doch noch entrichten zu müssen, wird von D. bis ins Detail bloßgelegt.
Internationale ‚linke’ ‚kulturelle’ Seilschaften gleicher Generation vor allem in Lateinamerika, Meinungsmacher in den Feuilletons Polens („Jahrhundertreporter“) und Fan-Gemeinden (nicht nur in Deutschland) haben Kapuscinski immer wieder aufgefangen, aber heute ist ihre eigene Macht verblasst.
Der von Beginn an unprofessionelle Journalismus von Ryszard Kapuscinski entwickelte sich über Legendenbildung und Konfabulieren zu Formen, die literarischen Reportagen zum Verwechseln ähnlich sahen und nur bei exzellenter Kenntnis von Fakten und Verhältnissen zu enthüllen waren.
Er ließ sich zu lateinamerikanischen Journalismus-‚Workshops‘, die Freund Garcia Marquez organisierte, als Promi einladen, (622-625).
Der ausführlich zitierte Auftritt in Mexiko (wann?) ist peinlich. Die große Zahl der abgewiesenen studentischen Bewerber hat wenig zu bedeuten, gehört auf die Ebene von Karrierewünschen. Mit dem Anspruch, einen ‚Neuen Journalismus’ mit illustrer Ahnenreihe (624: Balzac, Goethe, Orwell, Malaparte, Chatwin, Baudrillard… ) zu begründen, macht er sich lächerlich.
Gegen Ende des Lebens wollte er nach „Herodot“ auch noch den Anthropologen Malinowski vereinnahmen (im Projekt „Reisen mit Malinowski“) und schmeichelte sich, Kandidat für den Literaturnobelpreis zu sein.
Ich gestehe:
Außer „Der Fußballkrieg“ (ein Sammelsurium) und „Afrikanisches Fieber“ (atmosphärisch stark) und – nach der öffentlichen Lesung – „Imperium“ habe ich kein Buch mehr von ihm mehr als angelesen, obwohl sie über Jahre gut sichtbar im Regal standen und ich trotz einer Kritik an seiner ‚Heimlichtuerei’ meine positive Einstellung zu ihm bewahrte und selbstverständlich Sachinformation erwartete. An „Imperium“ fiel mir bloß eine gehörige Portion ‚enzyklopädischen’ Wissens auf, die ich mir heutzutage einfach bei Wikipedia besorgen würde. Er hatte es sich auch nur angelesen. Mit „Lapidarium“ konnte ich nichts anfangen.
In Kenntnis seiner Erfindungen und Verfälschungen steht bei mir sein Kredit auf Null. Genau wie sowieso schon sein abgestandene Antiimperialismus leninistischer Prägung.
Ist das Buch eine „Hagiographie? – Warum nicht, wenn wir unvoreingenommen heran gehen? (29.4.22)
https://de.wikipedia.org/wiki/Hagiographie
Die Hagiographie (auch in der Schreibweise Hagiografie, aus altgriechisch τὸ ἅγιον tò hágion „das Heilige, Heiligtum“ bzw. ἅγιος hágios „heilig, ehrwürdig“ und -graphie) umfasst sowohl die Darstellung des Lebens von Heiligen (Vita) und ihrer Taten (Gesta), als auch die wissenschaftliche Erforschung solcher Darstellungen. Hagiographische Quellen sind Texte oder materielle Überreste, die geeignet sind, über das irdische Leben der Heiligen, ihren Kult und die nach Überzeugung der jeweiligen Kultgemeinschaft bewirkten Wunder Aufschluss zu geben. Zu den Texten zählen etwa Viten (Heiligenleben), Translationsberichte, Kloster- und Bistumschroniken, Erwähnungen in sonstigen Chroniken und anderen historiographischen Gattungen, Authentiken (Beglaubigungsdokumente für Reliquien), Kalendarien, der Verehrung dienende literarische Gattungen in liturgischen Handschriften, beispielsweise Hymnen, Sequenzen, Antiphonen oder Litaneien, epigraphische Zeugnisse (Inschriften); zu den materiellen Überresten etwa Ikonen und andere bildliche Darstellungen, Kultbauten, Kultgerät, Heiligengräber, Reliquien und Reliquiare, Votivgaben und Devotionalien.
Domoslawski weiß, warum er das Thema selber anspricht. Er ist kein braver „Eckermann“ wie Goethes Protokollant. Seine fast 700 Seiten enthalten alles, was zur Hagiographie einmal gehört hat: von der Selbstaussage des ‚Heiligen’ selbst wie der seiner Umgebung angefangen. Er betont auf jeder Seite den ‚hohen Status’ Kapuscinskis, sowohl gegenüber der Witwe wie den den Anhängern und selbst gegenüber Kapuczynskis Kritikern. Die angeblich hohen Erwartungen der Lesergemeinden in aller Welt sind ebenso spürbar.
Angesichts der beiden Verbotsprozesse für die Biografie erscheint der durchgängig demütige, ja devote Ton peinlich, aber die Furcht des Autors berechtigt, als Verräter, als Judas („der, den ich küsse...“) zur ‚Unperson’ zu werden.
Warum hat er das Projekt auch dann nicht aufgegeben, als sich Kapuczinskis massive Neigung zur Legendenbildung und Quellenfälschung abzeichneten?
Vielleicht wollte er genau das erreichen, was ich an dieser Hagio-Biografie bewundere: die Potenz, die Überlegenheit der eigenen faktographischen wissenschaftlichen Methode an ihrem frechen und hartnäckigen Leugner beweisen! Ich glaube mich an einige verräterische Sätze innnerhalb seiner länglichen gewundenen Verteidigungsbemühungen zu erinnern.
Es sind so viele Legenden, Verschleierungen und Weihrauch in der Welt. Und hier entkleidet ein erklärter und begabter Schüler seinen Meisterreporter systematisch seiner Lügen, Legenden und Täuschungen, bis dieser Mensch ziemlich nackt vor uns steht: kein Vorbild, kein Meister, kein Heiliger, sondern ein Mensch in seiner diffusen Aura. Es ist auch ein Vatermord, schon weil Domoslawski in Lateinamerika das gleiche Feld beackert hatte. (Siehe unten pol.wikipedia)
Es ist auch deshalb eine Hagiographie, weil Domoslawski sich nicht genug von seinem ‚Heldenreporter‘ löst. Die welt- und landesgeschichtlichen Ereignisse und globalen Stellvertreterkriege reduziert er damit auf die Große Kulisse für einen eingeflogenen, ahnungslosen und hilfsbedürftigen „Reporter“ aus dem von Moskau abhängigen unzuverlässigen provinziellen Polen.
Domoslawskis Rückzug vor der „politischen Biografie“
Im Unterschied zu einer politischen Biografie erhalten das Liebesleben, das ‚letzte Königreich’ Arbeitszimmer und das Sterben einen emotional bedeutenden Platz. War die Witwe gegenüber dem Leichenfledderer vielleicht nicht im Recht, als sie ihre Privatsphäre reklamierte? Die vielen ‚befreundeten’ Zeugen haben sich so leichtfertig verhalten, als könne ihre einzelne Enthüllung dem wunderbaren Gesamtbild überhaupt nicht schaden. Oder als seien sie neugierig, was beim ‚Heiligsprechungsverfahren’ am Ende herauskommt. Meinten sie etwa, dass der advocatus diaboli eine reelle Erfolgschance bekommen sollte?
Judas
Hat „Leb wohl, Judas…“ von Ireneusz Iredynski(deutsch, Reclam-Leipzig 1983) bei Artur Domoslawski Pate gestanden? Ich zitiere die Eingangssätze des Schauspiels auf Seite 7:
Jan: Wo waren wir stehengeblieben?
Judas: Bei meinem Vater … dass er solche Einfälle hatte … Es war komisch. Mutter hat erzählt, dass sie strikt dagegen war, mir diesen Vornamen zu geben …. Und da haben sie mich so getauft. Der Pfarrer wollte es nicht gelten lassen, aber Vater hat ihn überzeugt. Es wäre ein Apostel. …. Na ja, aber was für einer. …. Ich hab dadurch gelernt, mich zu wehren.
Jan: Durch was?
Judas: In der Schule. Die andern riefen mir nach: Judas, her mit den Silberlingen, sonst kriegst du eins in die Fresse. … Da musste ich ran.
Jan: Klar.
Judas: Ich hab’s gut gelernt.
Jan: In den Magen oder in den Kopf?
Judas: Beides.
Notwendige Ergänzung 1.Mai 2022 : Der „Claas Relotius“-Skandal 2017
Mich interessierte seinerzeit der Fall nicht besonders, weil ich SPIEGEL, STERN und ZEIT – ebenso wie die diversen Sonntagsausgaben von Tageszeitungen – schon lange nicht mehr lese. Ich habe keine Zeit auf der Couch zu verschwenden, um irgendwann auf die Pointe zu stoßen. Auch sonntags nicht. In Wartezimmern gebe ich spätestens nach zwei, drei Druckseiten auf.
Mich wunderte nur, wieviel Wind um „die Reportage“ als literarische Form gemacht wird, wieviel spezielle Kulturpreise dafür vergeben werden. Welche Lobeshymnen ertönen, auch zu Relotius. Ein Wirtschaftszweig feiert sich selbst. Wenn schon die journalistische Arbeit immer geringer geschätzt wird, wenn im Alltag immer weniger Mittel und Zeit zur Verfügung stehen, immer mehr Praktikanten und schlecht bezahlte Anfänger an die Front geschickt werden, die Korrespondenten immer weniger Sachverstand mitbringen, dann retten auch schön gemachte „literarische Reportagen“ nichts am System. Auch die Recherche-Pools der miteinander verbandelten Großverlage und politisierenden „Stiftungen“ produzieren Feigenblätter.
Gerade die Vorwürfe gegen Relotius und in diesem Zusammenhang gegen das SYSTEM SPIEGEL legen den Kern des Problems frei: Politkitsch, um Publikumserwartungen zu erfüllen. Oder als „Lügenpresse“ Propaganda-Aufträge zu erledigen. Kriegsberichtserstattung hat augenblicklich wieder eine hohe Zeit. Um nicht grob zu erscheinen, möchte ich an ein Interview Noam Chomskys erinnern. Er antwortet auf eine Vorhaltung des Partners (etwa): ‚Und warum sind Sie wohl in diese Position gelangt‘?
Die Themen der Reportage sind zu ernst, oft zu wichtig, um sie Stilisten zu überlassen. Oder sie sind schlicht überflüssig. Wo Pressefreiheit herrscht, dürften auch prominente Schriftsteller nicht die erste Wahl sein.
3 Links
Das sehr lesenswerte Interview von Claude Fankhauser: „Autor im Gespräch: Artur Domoslawski“, bei reportagen.com, dem Internet-Magazin „REPORTAGEN“ (LINK)
Rezension in Die Welt, 12. April 2014 (LINK) von Stephan Wackwitz: „Vom Gewicht der Tatsachen – Lob der Dokumentation: Artur Domosławskis Biografie der polnischen „New Journalism“-Legende Ryszard Kapuściński ist ein Lehrstück über die Grenzen journalistischer Freiheit“ –
Ich zitiere im folgenden zentrale Abschnitte. Die Unterstreichungen sind von mir. (Gv)
(….) 2010 erschien im Warschauer Verlag Świat Książki eine Biografie der polnischen „New Journalism“-Legende Ryszard Kapuściński, die bewies, dass die epistemologischen Komplikationen nonfiktionalen Schreibens keine abgehobenen literaturwissenschaftlichen Fragen sind, sondern Treibstoff sehr irdischer gesellschaftlicher Skandale. „Kapuściński Non-Fiction“ heißt das jetzt auch auf Deutsch greifbare Buch von Artur Domosławski, einem Reporter der „Gazeta Wyborcza“, der mit dem verstorbenen Kapuściński befreundet gewesen war und wie sein berühmter Kollege und Mentor regelmäßig über die Diktaturen und Umstürze in Südamerika berichtet hatte. Diese Biografie löste in Polen gerichtliche Auseinandersetzungen, umfangreiche gegenseitige Verdächtigungen, politische Diskussionen und allseitige Leidenschaftlichkeit aus.
Um zu verstehen, wie ein so sorgfältig recherchiertes, abwägendes und gerade in der moralischen Wertung eines Schriftstellerlebens geradezu skrupulös multiperspektivisches Buch so wirken konnte, muss man etwas über den literarisch-moralischen Status Kapuścińskis in der postsozialistischen polnischen Gesellschaft wissen. Kapuściński war in den Neunzigerjahren und zu Beginn des Jahrhunderts so etwas wie ein säkularer Heiliger. Das lag nicht nur an seinem aphoristischen Alterswerk, das sich in seiner intellektuellen Substanz kaum über die allgemein verbreiteten Meinungen, Vorurteile und Weltbilder des postsozialistischen polnischen juste milieu erhebt, die entsprechenden Gemeinplätze vielmehr mit der moralischen Autorität des weitgereisten Kosmopoliten bekräftigte.
Kapuściński war vor allem in den langen dunklen Jahrzehnten zuvor derjenige Schriftsteller gewesen, von dem man auch in der offiziellen Presse brillant geschriebene, undogmatische (wenn auch durchgehend marxistisch inspirierte) Berichte über die Geschehnisse in aller Welt lesen konnte, armchair travels für eine in ihrem sozialistischen Staat eingesperrte Gesellschaft, die auf ihre Weltoffenheit, Auslandsbezogenheit und Reisefreudigkeit zu Recht stolz gewesen war. Kapuściński wurde bewundert, geliebt und beneidet als der polnische Weltrepräsentant – und als ein zeitgenössischer polnischer Schriftsteller, der – wie Miłosz, Lem und Mrożek – schon seit den Siebzigerjahren zur Weltliteratur gehörte. (….)
Gerade die Dekonstruktionen, die Domosławski einigen Hauptwerken Kapuścińskis angedeihen lässt, könnten sein Buch zu einem Klassiker auch der Literaturwissenschaft machen. So hinterfragt er mit desaströsen Wirkungen für die literarische Reputation Kapuścińskis, warum der in seinem – nach 1990 veröffentlichten – Buch über die Sowjetunion („Imperium“) dieses untergegangene Land eigentlich keine Zeile lang aus der Perspektive eines Mannes beschreibt, der immerhin von 1953 bis 1981 Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen ist – was, eben auch literarisch, eine versäumte Chance von monumentalen Ausmaßen darstellt.
Oder er rekonstruierte mithilfe intensiver Quellenbefragungen, dass das Buch über den Fall des äthiopischen Negus Haile Selassie, das aus Interviews mit Höflingen, Spitzeln und ehemaligen Würdenträgern seines Hofs zusammengesetzt zu sein beansprucht, zwar als ein politisch sehr wirksames verstecktes Portrait der Polnischen Arbeiterpartei unter Edward Gierek funktioniert, aber mit den äthiopischen Verhältnissen und auch mit den angeblichen Aussagen der zitierten Augenzeugen nicht allzuviel zu tun hat.
Verteidiger dieses Verfahrens haben es als poetische Lizenz interpretiert, die es dem Reporter erlaubt habe, das Phänomen totalitärer Macht „an sich“ in einer poetischeren, und deshalb tieferen Wahrheit zu erfassen, als dass mit einem faktisch durchgehend korrekten Verfahren möglich gewesen wäre. Aber als ich jetzt noch einmal in das Buch schaute, wurde mir fast schockartig klar, wie sehr das Wissen um die nicht streng dokumentarische, sondern offenbar weitgehend fiktionale Vorgehensweise Kapuścińskis die literarische Qualität dieses Klassikers eben doch beschädigt. (….)
pl.wikipedia (LINK) : Der Beitrag zu Artur Domoslawski ! – Gutes Verständnis des polnischen Textes dank Google Translate! Hier ein paar Auszüge:
Artur Domosławski (* 1. Dezember 1967) – polnischer Theaterwissenschaftler, Journalist, Schriftsteller, Reporter, Gewinner des Grand Press Award (2010), seit 2011 Journalist der Wochenzeitung Polityka. (….)
Lebenslauf
1993 schloss er sein Studium an der Fakultät für Theaterwissenschaft an der PWST in Warschau ab. Er beschäftigt sich hauptsächlich mit Lateinamerika, der Antiglobalisierungsbewegung, sozialen Konflikten und religiösen Fragen.
Sein Buch Latin American Rush (Dezember der Warschauer Literaturpremiere 2004 [1]) ist ein Reporterbericht über Reisen durch fast ganz Süd- und Mittelamerika (einschließlich Brasilien, Mexiko, Kuba, Argentinien, Peru, Chile), der mit den Geschichten verwoben ist dieser Länder mit starker Betonung der Zeit der kommunistischen Revolutionen und Militärputsche. Ein großer Teil der Arbeit widmet sich der Beschreibung der Regime in Chile, Argentinien und Kuba sowie der Kritik marktliberaler Reformen [2]. Er erhielt die Beata Pawlak für das Buch mit dem Titel America Rebellious, eine Sammlung von Interviews mit amerikanischen linken Intellektuellen.
Er wurde zum Journalisten des Jahres 2010 gewählt, geehrt während einer Gala in Warschau, organisiert von der Monatszeitschrift „Press“ [3]. 2017 wurde er für das Buch Wykluczeni [4] für den Nike Literary Award nominiert.
Am 1. Juni 2011 verließ er die „Gazeta Wyborcza“ für die Wochenzeitung Polityka [5]
Der Fall der Kapuściński-Sachbiographie
Das 2010 erschienene Sachbuch Kapuściński löste in den Medien eine Debatte über die Biografie von Ryszard Kapuściński, seine Beziehungen zum Regime der Volksrepublik Polen und die Zuverlässigkeit seiner journalistischen Bücher aus. (….) Am 14. Oktober 2016 hat das Berufungsgericht in Warschau die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts rechtskräftig aufgehoben und Artur Domosławski das Recht erteilt, das Sachbuch Kapuściński in vollem Umfang zu veröffentlichen. (….)
Redaktionelle Überarbeitung am 24.3.2023. Bisher wurde der Blog 77 x von 69 Besuchern angeklickt.
KOMMENTAR VON ARNO IN EINER MAIL VOM 8.JUNI 2022. ER ERGÄNZT DEN FALL DES REPORTERS TOM KUMMER AUS DEM JAHR 2022.
Dein Artikel ist wie immer gut zu lesen. Du fasst bündig zusammen und setzt eigene Akzente.
Deshalb nur unwesentlichen Randbemerkungen:
Im deutschen Medienzirkus gab es vor Relotius noch den Fall Tom Kummer/ Ulf Poschardt, die im Zeit-Magazin ihr Unwesen getrieben haben. Kummer rauschte mit brandheißen Interviews an, Abschriften persönlich durchgeführter Gespräche, durchsoffener Nächte, Anekdoten aus Bars und besuchten Prachtvillen von Bob Dylan und anderen Promis. In Wirklichkeit hat er nur Satz-Bausteine der Presseabteilungen der Platten, Produktionsfirmen leicht abgeschmergelt und neu zusammengesetzt. Poschardt als Chefredakteur des Zeit-Magazins wusste von der Arbeitsweise Kummers, scheute sich aber nicht, diese Phantasmagorien zu veröffentlichen. (Waren sie denn so falsch, sie trafen doch unsere Vorstellungen?)
Poschardt wurde gefeuert, das würde die Zeit heute nicht mehr machen. Tom Kummer war ein Held für viele Leser und arbeitete letztlich nur literarisch. Heute ist Poschardt Chefredakteur bei „Welt N24“. Kompetenz lässt sich nicht von Kleinigkeiten aufhalten.
Erheiternd finde ich auch deine Bemerkung über den „Wirtschaftszweig Reportage“, der in zunehmendem Maße von Praktikanten und blutigen Anfängern bestritten wird. Beziehungsweise von Agenturen, die den einen Artikel, die eine Live-Schalte vor Ort als Ausweis der Authentizität hundertfach verkaufen und jedes kleine Provinzblatt, jeder Verkaufssender präsentiert ihn als den eigenen. Das Niveau ist immer dassselbe, seien es die Berichte über den Geburtstag der Queen und was sie morgens gegessen hat, sei es der Bericht über die Gräuel in der Ukraine. Wir sind alle erschüttert und fragen uns: wie lange muss Prinz Charles noch warten? Wann wird Putin endlich an seinem Hirntumor, progredientem Wahnsinn, den Problemen der Schönheitsoperationen seiner Töchter versterben? Warum ist Scholz nur so zögerlich? Ist das seine Auseinandersetzung mit dem Vater? Oder war das Helmut Schmidt? Oder war Helmuth Schmidt der Vater von Olaf Scholz? (Es gibt auch seriöse Berichterstattung, aber die sinkt auch kontinuiertlich in ihrer Qualität.)
Was ist „Wahrheit“? (Ich verlasse jetzt deine Kritik des Buchs von Domoslawski über Kapuscinski.) (….) Arno