Erlebnisse eines Tagelöhners in Berlin – Gastbeitrag

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Erlebnisse eines Tagelöhners

I – Kuba, mon Chéri   (Nov. 2021)

Das liege doch in Schwaben, erwidert Alejandro auf meine Auskunft, dass ich aus Freiburg komme. Angestachelt setze ich zu einer Grundsatzrede über das Verhältnis von Badnern und Schwaben an. Doch Alejandro beschwichtigt mich sofort und versichert mir, dass er mich nur ärgern wollte, denn er wisse genau, dass Freiburg in Baden liege und was dies in Bezug auf Schwaben bedeute. Ich bin beeindruckt, denn für meine bisherigen Gesprächspartner in Berlin entsprach alles, was südlich von Kassel liegt Bayern. Noch viel mehr beeindruckt bin ich jedoch, da Alejandro aus Kuba kommt und erst seit ein paar Jahren in Berlin lebt.

Wir beide sind die nächsten Tage für die Einlasskontrolle eines Luxusmode-Outlets zuständig, denn es ist „Black Week“ – d.h. die Woche des Black Friday (amerikanischer Konsumfeiertag) und es wird ein großer Andrang erwartet. Dieser bleibt dann jedoch coronabedingt aus und so haben wir Zeit für ausgiebige Unterhaltungen.

Die Liebe hatte Alejandro aus einem Mexiko-Urlaub nach Deutschland geführt. Alles ging sehr schnell zwischen ihm und seiner deutschen Freundin, bald schon wurde die Heirat geplant, Alejandro zieht nach Deutschland. Dort erwartet ihn eine Überraschung, ein Bundestagsbesuch inklusive Wannseeschifffahrt – auf die Einladung einer AfD-Abgeordneten. Denn seine Ex-Schwiegereltern – die junge Liebe hielt leider doch nicht so lange – kommen aus Brandenburg und sind sowohl AfD-Parteimitglieder als auch Querdenker.

Alejandro studiert inzwischen in Spanien, fliegt lediglich noch für die Arbeit nach Deutschland. Denn in Spanien gibt es keine Jobs für junge Menschen. All die „komfortablen“ Jobs wie Einlasskontrolleur, Nachtwächter o.ä. sind von älteren Menschen besetzt, die sie brauchen, um ihre mickrigen Renten aufzubessern. Für junge Menschen bleibt daher kaum Arbeit übrig und wenn doch, dann zu sehr schlechten Bedingungen und noch viel schlechterer Bezahlung. Dies erklärt meinen Eindruck von den vielen Spaniern in Berlin ein Großteil von ihnen studiert welche bei Lieferdiensten oder Startups arbeiten, meist zu Löhnen und unter Verhältnissen, die heimische Arbeitnehmer für absolut inakzeptabel halten würden.

In der Regel steigen die bereits etwas betagteren Kundinnen aus ihrem Auto – wahlweise BMW, Porsche oder Mercedes – und kommen über den direkt vor dem Laden gelegenen Parkplatz zielstrebig auf den Eingang zu. Die meisten von ihnen kennen die Hausregeln und gehen automatisch zu den Schließfächern neben der Tür, um ihre Handtasche zu verstauen. Aufgrund der Coronabeschränkungen kommt jedoch aktuell eine neue Regel hinzu. Um die Anzahl der Kundinnen innerhalb des Ladens im Blick zu behalten, muss jede Kundin einen rollbaren, etwa 1,50m hohen Kleiderständer mit sich führen.

Es kommt nun ein weiteres älteres Ehepaar zur Türe herein, und die Dame geht wie selbstverständlich zu den Schließfächern. Als wir ihr daraufhin jedoch den Kleiderständer mitgeben wollen, ist sie sichtlich verwirrt. Alejandro versucht ihr zu vermitteln, dass dies wegen Corona nötig ist, doch die Dame stammt aus Frankreich und so trifft sein „spanisches“ Deutsch auf ihr rudimentäres Verständnis der deutschen Sprache. Es folgt ein kurzer Moment des Zögerns ihrerseits, bevor sie entschlossen durch den vor ihr stehenden Kleiderständer steigt.

Alejandro und ich gucken uns, dank der Masken hoffentlich unbemerkt, breit grinsend an. Und auch ihr Ehemann ist sichtlich amüsiert und versucht sie abzuhalten: „Cheri, Cheri, no, no, no!“. Sie versteht dies jedoch als Zeichen, dass der erste Durchgang nicht erfolgreich war und setzt sogleich zum zweiten Mal an. Daraufhin gibt es bei ihrem Mann kein Halten mehr. Er bricht in lautes Gelächter aus. Endlich wird der Dame klar, dass es sich um einen Kleiderständer und nicht um einen Metalldetektor handelt. Peinlich berührt erklärt sie, dass sie sehr viel fliege und daher dachte, dass es sich um eine Sicherheitskontrolle handle. Als die beiden schließlich in den Laden gehen, wünschen wir ihnen – das Lachen mit letzter Kraft unterdrückend – einen erfolgreichen Einkauf.

Ganz im Gegensatz zu seinen vormaligen Schwiegereltern bezeichnet sich Alejandro als liberal, sowohl in Gesellschafts- als auch in Wirtschaftsfragen. Und so verhandeln wir inmitten des Konsumtempels ein breites Spektrum an Sichtweisen, sprechen angeregt über den kubanischen „Sozialismus“ und die deutsche Demokratie.

Meine teils nostalgisch verklärte Sicht auf Kuba trifft dabei auf Alejandros Schilderungen einer Gesellschaft, die von extremem Mangel geplagt ist. Er sieht keine realistische Chance für Reformen oder eine merkliche Verbesserung der Lage. Ich erfahre im Folgenden von einem Exodus der Jugend aus Kuba, der noch stärker sei als der in Spanien. Jeder, der die Möglichkeit dazu habe, verlasse das Land. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist das Interesse der Großmächte an Kuba fast ganz zurückgegangen. Abgesehen natürlich, von der nach wie vor anhaltende Sanktionswut der Amerikaner – deren Auswirkungen eine eingehendere Betrachtung an anderer Stelle verdienen – zeugen lediglich noch steinerne Monumente, wie etwa das Monstrum der russischen Botschaft in Havanna, von einer anderen Zeit.

Ebenso verklärt wie mein Blick auf Kuba, ist Alejandros Blick auf Deutschland. Um sein Bild von einer nahezu perfekten Demokratie und klassenübergreifendem Wohlstand zurechtzurücken, erzähle ich von Korruption, allerorts fehlenden Investitionen, einem Bildungssystem, das einen übersteigerten Egoismus fördert und der zunehmenden Prekarisierung immer größerer Teile der Bevölkerung.

In der Folge diskutieren wir über „Entwicklung“ (im Kontext nachholender Modernisierung) und darüber, was für eine Gesellschaft wir für erstrebenswert halten. Dabei wird deutlich, wie wir beide von den Verhältnissen geformt wurden, in denen wir aufgewachsen sind.

Während ich das große Defizit unserer Gesellschaft in einem Mangel an kollektivistischen Idealen ausmache, legt Alejandro seinen Schwerpunkt gerade auf das Gegenteil, einen Mangel an persönlichen Freiheiten. Und aus dieser Sicht ist es nur konsequent, dass er – trotz seiner Kritik an US-Imperialismus und konsumistischer Maßlosigkeit – in die USA,  “The Land of the Free”,  ziehen möchte. Viele seiner Freunde und Verwandten haben es dort bereits „geschafft“ und so ist auch er hoffnungsfroh und will dort sein Glück versuchen.

Während sich kurz vor der Ladenöffnung noch eine kleine Warteschlange vor der Ladentüre gebildet hatte und der Andrang am Vormittag zwar nicht riesig, aber doch merklich war, hat der Publikumsverkehr in den letzten Stunden merklich abgenommen. Da sich inzwischen nur noch ab und zu eine Kundin in den Laden verirrt, beschließt unsere Chefin, dass wir früher Feierabend machen dürfen. Alejandro und ich packen also schnell unsere sieben Sachen und treten hinaus in die kalte Berliner Abendluft im November.

J. M. (eingereicht ende Februar)

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