Der Wissenschaftler und das Irrationale – Erster Band – Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie” (1981)- Review

|

Verfasst : 11.1.2020

Beim Stöbern in einem fremden Antiquariat stoße ich im Herbst 2019 auf zwei dicke Paperbacks, die vor vierzig Jahren (1981) bei Syndikat in Frankfurt verlegt wurden. Da blickte ich aber als Gymnasiallehrer in eine andere Richtung. Ihr angeschmutzter Umschlag strahlt noch immer etwas von seiner früheren Eleganz aus – freches farbiges Titelbild von Weiß umgeben. Im Innern herrscht kräftige Druckschwärze in lesefreundlicher Größe, ganz im Unterschied zu Suhrkamps wissenschaftlichen Taschenbüchern!

“Der Wissenschaftler und das Irrationale – Erster Band – Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie Herausgegeben von Hans Peter Duerr” so lockt der Titel noch immer.

Auf den 690 Seiten geht es um “Lehrjahre” , “Schamanen, Hexen, Ethnographen”, “… “Was der Professor nicht gesagt hat”, “Die Beschreibung des Fremden in der Wissenschaft”, “Irrationales in der Wissenschaft – lebenslänglich”, “Religion des Volkes und Religion der Gelehrten” und vieles mehr. Den stärksten Eindruck hinterlässt bei mir “Die ethnoromantische Versuchung” (S.377ff.) auf neun Druckseiten von Stephen O. Murray (*1950 in St.Paul, Minnessota, u.a. “The Scientistic Reception of Castaneda” 1979). Ich lade heute meine Lesenotizen und subjektive Schlussfolgerungen vom Herbst 2019 hoch. Ich hoffe, dass die Botschaften von Murray & Co trotzdem zu Ihnen durchdringen.

Ein ganzer Band „Ethnologie und Anthropologie“ !
‘Ethnologie’ – Ein Wespennest an ausgeprägtem Individualismus, voller Eifersüchteleinen um fiktive Reviere, Grenzziehungen, Überbietungen angesichts hoffnungslos überdimensionierter Herausforderungen durch „Feldforschung“.
Hin- und hergerissen zwischen dem Reiz des Exotischen, überhaupt des Ungewöhnlichen und dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit, wechseln die Feldforscher zwischen Größenwahn und Verzagtheit.
Man erfährt bei Murray ein wenig über den Benimmcode der akademischen Welt, namentlich, wenn “wissenschaftliche Geringschätzung unsichtbar bleibt“ (382). Herausgeber wissenschaftlicher Magazine ziehen aus schlechten Erfahrungen (hier mit Castaneda) zwar ihre Lehren, “aber sie vermögen keinen Grund zur Warnung jener zu sehen, die bislang in ihrer gläubigen Haltung nicht zu erschüttern waren.” (ebd.)
Wie immer habe ich mir mit der Ethno-Branche eine Richtung mit einer kurzen, aber um so dramatischeren Wissenschaftsgeschichte ausgesucht, von den Anfängen dieses (20.)Jahrhunderts, als es nur eine geringe Zahl von Anthropologen und viele dahinsterbende Kulturen gab (380) (…) bis zur gegenwärtigen Anthropologie, wo jeder Anthropologe sein eigenes Dorf oder seinen eigenen Kulturbereich statt ein Monopol über eine ganze Kultur oder noch früher einen ganzen Kulturkreis hat. (381)

Ihr fehlen verlässliche institutionelle Rahmenbedingungen und allgemein anerkannte methodische Regeln. Zudem ist die Reproduzierbarkeit (angeblich) objektiver Ergebnisse, ohnehin meist fiktiv, denn  „eine Reproduktion von Untersuchungsbefunden“ ist unattraktiv: “Während Originalität wissenschaftliche Aufmerksamkeit (und die damit verbundenen Belohnungen) auf sich zieht, gilt dies für Reproduktionen nicht…” Murray zitiert die Warnung aus einem “Methodologiekurs”, “dass Arbeiten zum Zweck der Bestätigung oder Widerlegung bereits erfolgter Untersuchungen mindestens dreimal so gut sein müssten wie eine Originaluntersuchung, um eine Chance der Veröffentlichung zu haben.” (381) – Wie in der F.A.Z. (Sparte “Natur und Wissenschaft”) zu lesen war, gilt die Warnung allgemein in den Wissenschaften.
Die Situation wird durch Eigentümlichkeiten des Forschungsgebiets verschärft: „Überdies ist der äußere Druck selbst auf noch so isoliert lebende Gesellschaften so groß, dass bei Nachuntersuchungen festgestellte Unterschiede eher einem sozialen Wandel zugeschrieben werden als einer fehlerhaften Beobachtung bei der Erstuntersuchung. “ (381 f.)
Daher die abstrakte Selbstreferenz im permanenten Streit um die Dominanz konkurrierender Fachbegriffe (jetzt beispielsweise gendermäßig und postkolonial). Und die umfangreiche Rückversicherung im Anmerkungsapparat (meist ohne Seitennennung, der Name muss genügen), die niemand je überprüfen wird. „Schulen“ und „Autoritäten“ dienen auch dazu, sich abzugrenzen von „Reisenden und Missionaren“.

Man beachte, dass Ethnologen öffentlich in ritualisierter Form kommunizieren, per Vortrag, Aufsatz oder Studie, bewehrt mit wissenschaftlichem Anmerkungs-Apparat, dass sie dafür geduldig zum peer review Schlange stehen, dass sie ihre primären Feldnotizen zu Lebzeiten unter Verschluss halten und schließlich sowieso in einem abgelegenen Archiv für die Nachwelt entsorgen. Die auf S. 381 beschriebene Tendenz wegen eines wachsenden Angebots an Anthropologen zur Spezialisierung und Verkleinerung der ‘Erbhöfe’ hat das Übel der Segmentierung und „Übertreibung des Exotischen“ (Maurice Bloch, 378) verschlimmert.
Murrays Glosse ist voll prägnant formulierten Erfahrungen. z.B.: „Wenn jemand unter misslichen Umständen an einem fernen Ort unter Menschen lebt, zu denen er (Endlich spricht das Elend jemand aus!) nur mit Mühe eine Beziehung herstellen kann, und ein Dutzend Phänomene beobachtet, von denen elf gerade so vertraut erscheinen wie bei ihm zu Hause, so ist es das zwölfte, das andersartige, von dem berichtet wird (….), um die körperliche und seelische Unbill zu rechtfertigen.“ (377f.)
Mir geht auf, dass ich quasi als Korrektur eines romantischen Kult um „Kulte“ banale Machtbeziehungen und soziale Funktionen hervorhebe, oder besser, um die Spannung zwischen beiden Arten von Phänomenen sichtbar zu machen  natürlich auf den Schultern von MacGaffey, Kejsa-Engholm und Till Förster (“Offensichtliches und Verborgenes” 1998).
Oft gewinne ich auch den Eindruck, dass die Forscher sich in Details verlieren, beziehungsweise das ausführlich beschreiben, was sie ‚verstanden’ haben. Die ganze von Josef-Franz Thiel erlebte Fülle – oder manchmal Dürftigkeit – lese ich in seinem in vielen Facetten schillernden Erfahrungsbericht „Jahre im Kongo“, der die Bodenhaftung an keiner Stelle verliert. (LINK) Literarisch eleganter sorgt Michael Oppitz dafür, dass der Leser – und sei es durch überraschende ironische Einsprengsel in einen darstellenden Text – regelmäßig daran erinnert wird, wo er sich befindet, und wo nicht.
Warum sind ‚Monografien’ so langweilig wie Konversationslexika? Gerade auch, wenn sie ‚vertraute’ Phänomene für interessante ‚fremdartige’ ausgeben? Vielleicht, weil die Autoren zuhause nie Heimatmuseen besucht haben.
Warum sind ethnographische Fotos so banal und im gebotenen Format fast nutzlos? Warum können die meisten Feldforscher überhaupt nicht fotografieren? Unkreative Bürokraten? Ästhetikferne Archivare? Die eingesammelten Objekte werden so eindimensional beschrieben?
Was ist irgendwo ‚wichtig’? Lässt man sich von den Informanten herumschubsen?
Keine eigentliche „Berufsausbildung“, (388) im Umgang mit dem (positivistisch) „Messinstrument“, welches im Fall der anthropologischen Ausbildung „der menschliche Beobachter“ ist. – Maja Nadig, die Parin’s, Erdheim und die Ethnopsychoanalyse hatten da einen guten kommunikativen und reflexiven Ansatz!
Noch ’bis zu den 50er Jahren „galten Berichte, die in der ersten Person geschrieben waren, innerhalb der Anthropologie als formal misslungen, aber (…) wenn man nicht weiß, was dem ‘Feldarbeiter’ eigentlich widerfährt, die Hälfte oder überhaupt der größte / Teil des Prozesses verloren geht.“ (zitiert B.Myerhoff 1980)
Ich bemühe mich, den „Feldarbeiter“ als Zeuge zu beschreiben, aber das passt vorn und hinten nicht. Er ist kein reiner Beobachter, aber das sind Zeugen vor Gericht auch nicht. Er kommt mit Erwartungen und Fragen. Ist voreingenommen und naiv zugleich. Er sieht, was er ‚weiß’ – wenn er sich darüber nicht irrt. Der ganze Rest wird kompliziert. Der Zufall sollte nicht die Hauptrolle spielen, doch auch das Forschungsprogramm („heute mit mehr Prothesen und enger gefassten Hypothesen arbeiten“ 384) hat sich inzwischen herrschenden ‘Agenda’ gemausert) soll dann nicht zum verdeckenden Tunnelblick werden?
Andererseits ist er auf Übersetzer angewiesen, ihren Sprachkünsten und eigenen Absichten. Wem vertraut er sich an? Wie schätzen ihn die Gegenüber ein? Wie geht man mit ihm um, baut er ihn lokalen Alltag ein? Zoé Strothers zweijährige Erfahrungen bieten Anschauungsmaterial von ihrem unklaren und ambivalenten Status. Was hätte sie eigentlich ohne den tiefgehenden Konflikt im Dorf mit nach Hause gebracht?!  Das fragte ich mich bereits vor Wochen! (LINK)
Der Band führt unterschiedliche Grenzgänge vor. Unverkrampft erscheinen mir nur Leute wie Feyerabend, Oppitz und Parin, auch Ralph Linton in Madagaskar, (und natürlich Zoé Strother) die den Leser „abholen“– bei seiner Lebenserfahrung wie an einer Bushaltestelle oder am Bahnsteig. Ein schönes Wort! Lieben wir nicht alle, von jemandem abgeholt zu werden, dem wir Vertrauen entgegenbringen können und der nicht so schrecklich kompliziert und anspruchsvoll ist? Der nicht eine neue Terminologie erfindet oder uns sonst ein zu enges Korsett anlegt. Der nicht mehr erzählt als was er weiß und nach gesundem Menschenverstand wissen kann. Damit kommen die Autoren übrigens ziemlich weit.
Michael Oppitz fotografierte (39, 59) im Dorf Taka 1981 einen „Schamane(n) beim Erspähen einer Hexe“. „Ich sehe Kathka diese Hexe sehen, sehe aber selber die Hexe nicht. Zugleich ist am Ort des Vorfalls (…) eine Intensivierung der Spannung zu spüren. (…)“ (38) So kann man sich diesseits wie jenseits der ‚Grenze’ bewegen, weil der Verfasser in seiner Bescheidenheit einen ungeteilten Erfahrungsraum öffnet.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert