Lesefrüchte vom Dritten Ufer – eine Buchempfehlung

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Susanne Klengel/Holger Siever (Hg.), Das Dritte Ufer – Vilém Flusser und Brasilien, Würzburg 2009 ISBN 978-3-8260-3687-3 

Das war wohl ein Kongress – in Germersheim (Deutschland) 2006 –, an dem man gerne teilgenommen hätte, der auch Jahre danach nichts von seiner Brisanz verloren hat. Vielstimmigkeit,doch nicht Jubelreden oder eitle Spielereien der Art: Womit könnte man Flusser noch in Verbindung bringen? Es muss spannend gewesen sein, die Diskussionen zu verfolgen, aber vielleicht ist auch jetzt erst die Grundlage einer solchen Diskussion gegeben.

Ich habe Flusser für meinen Ethik-Unterricht an einem Gymnasium vor etwa fünf-zehn Jahren entdeckt. Damals war Flusser der erste nicht sesshafte philosophische Autor im 20. Jahrhundert. „Von der Freiheit des Migranten“ hatte mich für ihn gewonnen. Er lässt mich seither nicht los. Eine intensivere Beschäftigung in den vergangenen Jahren mit seinen Schriften und seinem Leben hat aber auch Frustration und Konflikte provoziert. Verschiedene Studien zu Flusser haben sie immer nur eine Zeitlang besänftigt.

Ich will hier nur ein paar Beiträge hervorheben, die für mich in klarer Optik und vor allem unverschlüsselt Vilém Flussers Existenz und Wirken in Brasilien beleuchten. Über diese Seite seines Lebens hat – so stelle ich an mir selbst fest – trotz aller Sekundärlitera-tur Flusser die Deutungshoheit behaupten können, mit immer denselben Blindstellen und Unschärfen, was mir im nachhinein das bewunderte Buch „Bodenlos“ trotz seiner kon-zeptionellen Extravaganz doch zu einer typischen Autobiografie werden lässt.

Izabela Furtado Kestler kartographiert nüchtern – „auf die philosophischen Werke […] werde ich nicht eingehen“ (S. 99) Flussers – Integration in die brasilianische Kultur, die ihn sogleich unversehens in eines der ideologischen Lager integrierte, zwischen denen sich die Rivalitäten und politische Gräben nach 1964 immer mehr vertieften – Zufälle, die zum Schicksal werden.

Michael Hanke bestimmt Flussers prekären Status in diesem Geflecht ohne Beschö-nigung. Auch der Zeitraum seines legendären Engagements in Brasilien grenzt sich auf eine Handvoll Jahre ein. Flussers Zwiespältigkeit und Zweigleisigkeit hören nie auf. Ein Emigrant, der es sich auf seinen Koffern wohnlich eingerichtet hat – war das seine „dritte Position eines Immigranten“ (S. 119)? Kostümierte er sich etwa bloß als Brasilianer? Ge-wiss nahm er die Umgangsformen und Unarten seiner provinziellen intellektuellen und künstlerischen Umgebung an. Über diese Zirkel äußerte er sich später bekanntlich herab-lassend. Doch was heißt das schon, wo er doch 1980 erklärte, übrigens in Sao Paulo: „Wie provinziell Prag war, davon gebe ich mir erst jetzt Rechenschaft.“ (Vilém Flusser, Zwie-gespräche – Interviews 1967-1991, Göttingen 1996, S.22)

Márcio Seligmann-Silva verknüpft Flussers zentrale Lebensleistung, aus Vertreibung und Exil eine menschenwürdige Lebensperspektive zu gewinnen, aufs Intimste mit des-sen Herkunft und Schicksal. Er hebt auch zu Recht die Rang der bereits erwähnten schmalen Textsammlung hervor, seine Erörterung wirft auch ein gutes Licht auf die Komposition von Jude sein durch Edith Flusser und Stefan Bollmann. So klar ist mir die spezifische jüdische Identität Flussers noch nirgends geworden, und das in einer Weise formuliert, die nicht politisch zu missbrauchen ist. Es war dann schön, im Aufsatz nicht nur Walter Benjamin (präzise an zwei Punkten), sondern auch Ruth Klüger zu begegnen sowie Flussers polnischen Schicksalsgenossen Witold Gombrovicz. Auch Derrida, Agamben und Girard helfen, Flussers Konzeptualisierung der Bodenlosigkeit zugleich zu klären und zu verdichten.

Auch Joachim Michael stellt zu diesem Essay kritische Fragen. So etwas ist erfri-schend zu lesen, weil es (noch?) Seltenheitswert hat, ausgerechnet gegenüber einem Au-tor, der bei jeder Gelegenheit Vorläufigkeit, Experiment und Provokation als seinen Stil behauptet und zu Kritik und Metakritik aufgefordert hat.

Susanne Klengel verteilt in „Brasilien denken“ ihre Kritik an Flussers Brasilien-Essay auf verstreute Bemerkungen (vgl. S. 118-21), wobei mir unklar bleibt, ob sie die Schrift „Auf der Suche nach dem neuen Menschen“ eigentlich retten oder diskret verabschieden will. Das von ihr vorgeschlagene neue Etikett der Anthropophagie verbindet zwar Flus-sers Unarten mit der Essenz der brasilianischen Moderne, die Autorin überzeugt mich aber nicht wirklich von deren untergründigen Einflüssen auf Flusser. FLUSSER STUDIES 3

Eine dazu passende Fallstudie scheint Rainer Guldin zu bieten. Er überprüft Flussers gescheiterten Dialog mit dem Dichter Haroldo de Campos anhand des in den Schriften erkennbaren Dialogpotentials. Es sieht danach so aus, dass vor allem Flusser von de Campos einiges hätte lernen können, aber das nicht begriff. Obschon er in Bodenlos klagte, Haroldo de Campos „verschloss sich jedem Argument, und schließlich unterbrach er den Dialog“, war er selbst wohl nicht dazu in der Lage. Er beendete den entsprechenden Ab-satz vielsagend mit: „Jedenfalls kritisierte man seine Gedichte weiter in der Presse.“ (Vilém Flusser, Bodenlos, Düsseldorf und Bensheim 1992, S.155) Wie gewöhnlich privile-gierte er auch auf diesem Feld einen Aspekt und ignorierte den Rest, etwa relevante Diskussionen, ob nun berühmte „kunsttheoretische Diskussionen“, oder „aktuelle Debatten“(S. 121) in der brasilianischen Gesellschaft.

Die Autoren von Das Dritte Ufer nehmen auch Flussers Anspruch einzugreifen ernst und erörtern explizit unterschiedliche Gründe für seine Erfahrung des Scheiterns. Ich war gespannt auf die Rekonstruktion von Flussers Aktivitäten als Kurator im Zusammenhang der São Paulo-Kunstbiennale 1973, die Ricardo Mendez bietet. Kurz und gut: das in der Branche Übliche: Gremien, Manifeste, Kontakte und Intrigen. Mein genereller Verdacht, dass Flusser ein rein strategisches Verhältnis zur Kunst pflegte, verdichtet sich. Beeindruckend ist die Nichtzulassung von 90% der Kandidaten. Der harmlose Größenwahn von Festival-Avantgarden? Doch Flusser zeigte genau diese Symptome. Bei der einzigen Er-wähnung von Schule im Beitrag horche ich auf, doch allem Anschein nach war für ihn – im Unterschied etwa zu Walter Benjamin – eine grundlegende Veränderung des Erziehungssystems kein besonders interessantes Thema. Dagegen die Videotechnik! Deren aus heutiger Sicht bescheidenes Potential hat Flusser später – meiner Kenntnis nach – nur zur Dokumenten seiner Auftritte genutzt – Videobotschaften – wie sie heute jeder Guru verbreiten lässt.

Ich erlebe an mir, dass die nüchternen, aber vielfältigen Blicke auf das denkende Individuum Vilém Flusser in Das dritte Ufer mir wieder den Kopf frei macht für faszinierende Entdeckungen in seiner komplexen, und inzwischen durchaus übersichtlich dokumentier-ten Innenwelt. Rainer Guldin, Dirk Hennrich und andere führen Konstruktionen und Rekonstruktionen mit sichtlichem Vergnügen vor.

Dann nagt wieder der Zweifel: Welchen Sinn macht es heute, immer noch mehr über Flusser zu wissen, bis irgendwann ein unüberschaubares Wissen nur noch von einer Priesterschaft in Apparaten verwaltet werden kann, die Flusser als Datensatz generieren – solange überhaupt noch Fragen eintreffen. Wollen wir ihn nicht als Menschen für uns bewahren – in manchem als tragische Gestalt, in manchem als Vorbild? Wollen wir selber nicht wirksam einzugreifen versuchen? Oder nehmen wir etwa sein Pathos des absurden Weiterlebens nach Auschwitz für nachwachsende Generationen zum Nennwert? Ein für eine telematische Gesellschaft kunstvoll gewirktes Sinn-Gespinst vor einem Abgrund Sinnlosigkeit ist für mich durchsichtiger Fummel, der so kleidsam wie überflüssig ist.

Ich will nicht vergessen, den Herausgebern zu danken für ein substantielles, informatives und anregendes Buch, auch wenn das von meiner Besprechung nur unzureichend vermittelt werden kann.

 

P.S. 28.10.2013:

Den Rat von Rainer Guldin, auch die übrigen Beiträge zu rezensieren, hätte ich ernst nehmen sollen! Schon einen Monat später verfasste ich – für mich – einen Nachtrag zu Norval Baitello Júnior: “Schrift verschlingt Bild verschlingt Schrift” stieß ich auf den ausgezeichneten Ausatz von Rüdiger Zill: “Nomadentum als konkrete Utopie”. Ich möchte hier auch hinweisen auf den Tagungsbericht von Gustavo Bernardo Krause, der ebenfalls in den Flusser Studies in der Rubrik ‘Reviews’ erschienen ist.

 

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