«Unternehmensverantwortung mit chinesischen Eigenschaften». Genau!

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TITEL – “In China beginnt die Umverteilung von oben nach unten”

AUTOR/QUELLE  –  Fabian Kretschmer, Peking, NZZ 19.08.2021, 11.Uhr (LINK)

Ich bitte  auf die rot gedruckten Passagen besonders zu achten.    ( ) = Kürzung 

 

AUSZÜGE

( ) Als Chinas Reformpatriarch Deng Xiaoping das Land Anfang der 1980er Jahre wirtschaftlich öffnete, lautete sein bis heute bekanntestes Bonmot, die Partei müsse es einigen Leuten erlauben, «zuerst reich zu werden». ( )
In einer ökonomischen Grundsatzrede versprach (Staats- und Parteichef Xi Jinping) «exzessiv hohe Einkommen» zu beschneiden und reiche Unternehmen dazu zu «ermutigen, mehr an die Gesellschaft zurückzugeben». In anderen Worten: Chinas Staatsführung stellt die Umverteilungsfrage. ( )

Die Einkommensungleichheit in China ist etwa vergleichbar mit der in den Vereinigten Staaten und deutlich grösser als jene in den meisten mitteleuropäischen Staaten. Mit 100 Milliardären leben in Peking so viele Superreiche wie in keiner anderen Stadt der Welt. Laut Angaben der Credit Suisse besitzt das reichste Prozent der Chinesinnen und Chinesen mehr als 30,6 Prozent des gesamten Wohlstands. Im Nachbarland Japan sind es lediglich 18,2 Prozent.

Der anerkannte Ökonom Branko Milanovic ( ) bezeichnete Chinas Ungleichheit zu Beginn des Jahres in einem vielbeachteten Beitrag in «Foreign Affairs» als «Achillesferse des chinesischen Systems». Milanovic schrieb damals: «Die neue Oligarchie kann nur von der Regierung beschnitten werden, die sie auch hervorgebracht hat.»

Denn trotz den glitzernden Fassaden und futuristischen Skylines von Schanghai bis Shenzhen lebt der Grossteil der Chinesen nach wie vor in bescheidenen Verhältnissen. Ministerpräsident Li Keqiang sagte während einer Rede im vergangenen Mai, dass mehr als 600 Millionen Chinesinnen und Chinesen nach wie vor mit einem monatlichen Einkommen von weniger als 1000 Yuan (rund 140 Franken) auskommen müsste.

( ) Dabei ist der Ansatz nicht einmal neu. ( ) Die «Zerschlagung der eisernen Reisschüssel», als die die Reformen im Vorfeld des Beitritts Chinas zur WTO Schlagzeilen machten, hatte für ein Heer an Abgehängten gesorgt. Hu Jintao und sein Ministerpräsident Wen Jiabao propagierten (2003) deshalb die «harmonische Gesellschaft» und setzten auf einen Ausbau der sozialen Sicherungssysteme. Ein durchschlagender Erfolg wurden die Bemühungen allerdings nicht. ( )

Auch wenn Xi Jinping in seiner Rede konkrete Massnahmen schuldig geblieben ist, darf man davon ausgehen, dass er deutlich entschlossener und mit mehr konkreten Eingriffen zu Werke gehen wird. Die medialen Debatten der letzten Monate legen beispielsweise nahe, dass China eine Immobiliensteuer sowie Abfuhren auf Gewinne am Aktienmarkt einführen dürfte.

Die Gerechtigkeitsdebatte sollte allerdings nicht mit einer grundsätzlichen Systemfrage verwechselt werden. Die chinesische Regierung ist weit davon entfernt, das kapitalistische Leistungsprinzip anzuzweifeln. «Wir sollten die Leute ermutigen, durch harte Arbeit und Innovation reich zu werden», sagte Xi.

Junge Leute klinken sich aus der Leistungsgesellschaft aus. ( ) Selbst wer als bestens ausgebildeter Universitätsabgänger in den Grossraumbüros der erfolgreichen Internetfirmen schuftet – meist Zwölf-Stunden-Schichten an sechs Tagen die Woche –, verdient im Schnitt nicht mehr als umgerechnet 3000 Franken im Monat. Das reicht ohne die Unterstützung wohlhabender Eltern oft höchstens für eine Wohnung weit draussen in der Vorstadt.

Die Xi-Regierung weiss um den Frust der städtischen Mittelschicht – und hat unter anderem mit einem rigiden Vorgehen gegen den kommerziellen Nachhilfemarkt reagiert, um die immensen Bildungskosten für den Nachwuchs junger Familien zu drosseln. Es wird erwartet, dass schon bald ein weiterer Schlag gegen den aufgeheizten Immobilienmarkt folgt. Und auch das Gesundheitssystem dürfte bald reformiert werden.

( ) Nun lautet der neue Slogan Xi Jinpings, «gemeinsamen Wohlstand» zu erreichen. Wie diese scheinbare Utopie ausschauen soll, lässt sich in der Provinz Zhejiang im Osten des Landes beobachten. Die bergige Gegend, bekannt für ihre buddhistische Tradition und die geschäftstüchtige Bevölkerung, wurde im Juni von Xi als Pilotregion für «gemeinsamen Wohlstand» ausgewählt.

Dort soll das jährliche Durchschnittseinkommen pro Kopf auf 75 000 Yuan (rund 10 600 Franken) angehoben werden, ein 50-prozentiger Zuwachs, verglichen mit dem Niveau von 2020. Ebenso sieht der Plan für die 57-Millionen-Einwohner-Provinz Philanthropie- Projekte für reiche Unternehmer und das Adjustieren von «exzessiv hohen Einkommen» vor. Wann die Gehälter diese Grenze erreicht haben, wurde bisher nicht erwähnt.

Bereits am Mittwoch sind erste Unternehmen dem Ruf des starken Führers aus vorauseilendem Gehorsam gefolgt: Das Internet-Imperium Tencent gab spät am Mittwoch bekannt, dass es umgerechnet rund 141 Millionen Franken spenden werde, um «gemeinsamen Wohlstand» zu erzielen – eine Formulierung, die Xi zuvor verwendet hatte. Die Gelder werden nach Firmenangaben unter anderem für Bildungsprojekte und ländliche Revitalisierung sowie zur Verbesserung des Gesundheitssystems verwendet. Gewinne spenden für die Erreichung der Regierungsziele

Andrew Batson, China-Chef für Gavekal Dragonomics, nennt das «Unternehmensverantwortung mit chinesischen Eigenschaften». Denn während im Westen Firmen ebenfalls Teile ihrer Gewinne für gemeinnützige Zwecke verwenden, tun dies chinesische Konzerne ebenfalls – nur dass sie sich nicht mit NGO gemeinmachen, sondern den Regierungszielen dienen.
( )
Dass Xi Jinping ausgerechnet jetzt die Gerechtigkeitsfrage anspricht, hat natürlich auch politisches Kalkül. Der 68-Jährige, der sich de facto als Machthaber auf Lebenszeit ernannt hat, wird 2022 wohl als erster Staatschef seit Mao Zedong seine dritte Amtszeit antreten. Xi ist bei den Unternehmereliten verhasst, während er beim einfachen Volk grosse Beliebtheit geniesst – vor allem aufgrund seines Kampfes gegen Korruption. Auch die harschen Töne gegen die reichen Eliten des Landes dürften bei den meisten Chinesen auf offene Ohren stossen.

KOMMENTAR  (Admin.)

Die NZZ hat in letzter Zeit mehr als einmal resolute Reformbemühungen der Parteispitze in der VR China thematisiert, die aufhorchen lassen. Auf der im Artikel abgedruckten Gini-Tabelle erreichen Länder wie Indien, Philippinen oder Sri Lanka  eine fast ebenso krasse “Einkommens-Ungleichverteilung”, ohne dass man ähnliche Programme erwarten könnte.

Wie früher gegen die extreme Armut geht es jetzt um städtische qualifizierte Mittelschichten, die von enorm steigenden Mieten – übrigens aus strukturell gleichen Gründen wie in den reichen Ländern des Westens – und einem aus den Fugen geratenen Ausbildungswettbewerb leiden, der allerdings für Ostasien typisch ist. Auch, dass ihn Xi gut ‘konfuzianisch’ zur Chefsache gemacht hat – “Warum China eine boomende Branche zerschlägt : Wer auf chinesische Aktien setzt, sollte die politischen Risiken nicht unterschätzen. Chinas Vorgehen gegen Nachhilfeunternehmen vernichtet Milliarden an Gewinnen. Doch gleichzeitig handelt Pekings Staatsführung aus ökonomischem Kalkül. So formuliert Fabian Kretschmer dort delikaterweise aus der Perspektive internationaler Investoren (NZZ 27.07.2021, LINK)

Ich kann nicht eingehen auf den Fünfjahresplan, den Umbau und die Wachstumsaussichten der Volkswirtschaft oder auf die Erfahrungen schweizer  Vermögensberater mit ihren Kunden unter den Festlands-Milliardären, bin froh, wenn ich die regelmäßigen Korrespondentenberichte schon in der NZZ nicht verpasse, aber vor allem die Formulierung “Unternehmensverantwortung  mit chinesischen Eigenschaften” (Andrew Batson) regt zu ein paar Gedanken an.

Kretschmer betont zu Recht, dass Xi keinen grundsätzlichen Systemwechsel einläutet, sondern eine Kurskorrektur anstößt, etwas, wovon wir in Europa nur träumen können. Salopp gesprochen, hat das Gespann von “Staat” und “Kapitalismus”  in China Tradition. Bis auf dreißig Jahre “Maoismus” hatten die Chinesen immer Kapitalisten, und die  müssen und wollen “durch Fleiß und Innovation” – und selbstverständlich Ausbeutung der Hungerleider – “reich werden”. In den besten Zeiten unter strenger Aufsicht einer bürokratischen Elite, die es schaffte, Karriereziel der Kapitalisten zu werden. Heute bewirbt man sich in der KP.

Die neuen “Milliardäre” haben im Westen das Steuer übernommen. Mit ihren unvorstellbaren Gewinnen aus ihren digitalen Geschäftsmodellen könnten sie fast die ganze Realwirtschaft  aufkaufen, auf jeden Fall kaufen sie Regierungen, Parlamente, Experten und gleich die restlichen Massenmedien. Wir dürfen uns bei einem undurchsichtigen Geflecht “gemeinnütziger Stiftungen” bedanken, die steuerbegünstigt Einfluss auf Forschung und öffentliche Meinung nehmen. Wie Sahra Wagenknecht schreibt, ist ‘ein schlanker Staat’ ein schwacher Staat, der – unterfinanziert – seine Verantwortung gegenüber den Bürgern weithin aufgibt.

Die neue Oligarchie kann nur von der Regierung beschnitten werden, die sie auch hervorgebracht hat.” (Branko Milanovic) Im Prinzip ja, aber trifft auf die Regierungen des Westens nicht ehe zu, was Goethes Ballade vom Zauberlehrling (1797, Zitat LINK) beschreit: ”

( ) Wie ich mich nur auf dich werfe,
gleich, o Kobold, liegst du nieder;
krachend trifft die glatte Schärfe.
Wahrlich, brav getroffen!
Seht, er ist entzwei!
Und nun kann ich hoffen,
und ich atme frei!

Wehe! wehe!
Beide Teile
stehn in Eile
schon als Knechte
völlig fertig in die Höhe!
Helft mir, ach! ihr hohen Mächte! ( )

Aus den USA hört man wenigstens noch, dass Behörden und eine wehrhafte Justiz irgendwann den Monopolisten und Datenkraken Feuer unterm Hintern machen. Was wäre an dem Gedanken schlecht, etwa Bill Gates würde “Regierungszielen dienen”? Das käme doch auf die Ziele an.

Die privilegierte Position der chinesischen Staatselite scheint mir darin zu bestehen, dass sie die ‘Geister’ der digitalen Revolution noch einzufangen und dynamisch einzuhegen in der Lage ist. Ich glaube an die heilsame dialektische Wirkung realer Gewaltenteilung potenter Gegenspieler (ja Montesquieu, aber unverdünnt).

Kretschmer scheint Festlegungen – bei uns im Westen als  “Grenzwerte” beliebt und berüchtigt – zu vermissen, etwa bei der Begrenzung akzeptabel hoher “Gehälter”.  Und er spricht bei dem Wachstumsziel in der “Pilotregion” von “scheinbarer Utopie”. Francois Jullien hat in seinem “Vortrag vor Managern…” (Internationaler Merve Diskurs 289, dt.2006 und PUV Paris 2005) die unterschiedliche Bedeutung von ‘Plänen’. (und ‘Planwirtschaft)’ in “chinesischer” und “europäischer” Tradition herausgearbeitet.

Ohne Idealisierung: Westliche Regierungen standen kaum je unter solchem Problemdruck wie chinesische seit zweitausend Jahren, die fast ständig äußere Bedrohungen, Katastrophen, Hungersnöte und Aufstände managen und vor allem überstehen mussten. Der an anderer Stelle im Artikel erwähnte Verzicht “erstmals in der Geschichte” (seit 1949) auf “ein numerisches Wachstumsziel” im neuen Fünfjahresplan macht diesen noch ‘chinesischer’.

Stand : 22.8.21. 18.00

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