„Ehrenmord“ oder bequemerweise „Femizid“ ?

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 THEMA : Ehrenmorde sind ein importiertes Problem

Quelle : Der andere Blick 12.August 2021 – von Oliver Maksan, Redaktor der «Neuen ZĂŒrcher Zeitung»

ZITAT

( ) Eine junge Afghanin wird von ihren BrĂŒdern wegen ihres «westlichen» Lebensstils ermordet, die MĂ€nner sitzen in Untersuchungshaft – und Teile der deutschen Öffentlichkeit diskutieren seit Tagen ernsthaft darĂŒber, ob es Ehrenmorde ĂŒberhaupt gebe oder ob sie nicht besser als Gewalt gegen Frauen an sich eingeordnet wĂŒrden. WĂŒrde man das Muster nicht schon kennen, wĂ€re man fassungslos. Doch es gibt auch Stimmen der Vernunft. Terre des Femmes – die fremdenfeindlicher Tendenzen unverdĂ€chtige Frauenrechtsorganisation – hat an diesem Mittwoch dafĂŒr plĂ€diert, den Begriff des Ehrenmords nicht einfach aus dem Diskurs auszusortieren und sich hinter dem allgemeinen Begriff des «Femizids» zu verstecken. Zu Recht.

(Die linke Berliner Integrationssenatorin) Elke Breitenbach und Gleichdenkende fĂŒrchten, durch die Benennung einer importierten kulturellen Dimension wĂŒrde von gewalttĂ€tigem Sexismus in Deutschland abgelenkt. Ausserdem soll immer vermieden werden, «Wasser auf die MĂŒhlen der Rechten» zu lenken. Terre des Femmes (LINK, seit 1981 Admin.) hingegen zeigt, dass man sich fĂŒr Frauen einsetzen und antipatriarchal sein kann, ohne aus identitĂ€tspolitischen GrĂŒnden blind fĂŒr die Wirklichkeit zu werden.

Um diese zu beschreiben, ist der Begriff des Ehrenmords schlicht unaufgebbar. Er benennt prĂ€zise, worum es geht – und worum nicht, etwa Beziehungstaten. Nun können individualistisch organisierte Gesellschaften wie die deutsche heute nur noch wenig mit der «Ehre» anfangen. In nichtmodernen Gesellschaften, und auch die gibt es noch, ist der Begriff hingegen zentral.

Vor allem im lĂ€ndlichen, bildungsfernen Raum, wo das Überleben des Einzelnen – Mann wie Frau – ganz von der Gemeinschaft, dem Clan, der Familie abhĂ€ngt, wird Ehre höchstes Kapital. Sie ist die WĂ€hrung, nach der innerhalb wie zwischen Familien gerechnet wird. Wo sie vermeintlich besudelt wird – etwa wegen normenwidrigen Sexes oder eines Religionswechsels –kann im Ă€ussersten Falle nur Blut sie reinwaschen. Durch Einwanderung kommt dieses Denken natĂŒrlich auch nach Deutschland.

Die deutsche Debatte wĂŒrde indes an SchĂ€rfe verlieren, wenn klar wĂŒrde, dass Ehrenmord kein exklusiv islamisches oder unmittelbar vom Islam ableitbares Problem ist, wiewohl es zahlenmĂ€ssig im islamischen Kulturkreis am hĂ€ufigsten auftritt. Ehrenmord war bis vor wenigen Jahrzehnten selbst in Europa – auf Kreta, Sizilien, dem Balkan – bekannt. Die Journalistin DĂŒzen Tekkal hat das PhĂ€nomen des Ehrenmords fĂŒr ihre jesidische Community im Irak beschrieben. Die uralte Gemeinschaft im Zweistromland war dort lange vor der Ankunft des Islams beheimatet. Und in OberĂ€gypten, wo die christlichen Kopten zu Hause sind, kommen Ehrenmorde ebenfalls vor.

Es ist zudem falsch, das PhÀnomen Ehrenmord allein durch die feministische Brille lesen zu wollen. Auch MÀnner können Opfer eines Ehrenmords werden, Homosexuelle etwa. Laut einer Untersuchung des Max-Planck-Instituts aus dem Jahr 2011 waren in Deutschland im Untersuchungszeitraum gar 43 Prozent der Opfer MÀnner.

Fest steht: Ehrenmorde gibt es, und sie sind ein nach Deutschland importiertes Problem. Eine gute Integrationspolitik darf davor anders als Berlins Integrationssenatorin nicht die Augen verschliessen. Sonst verunmöglicht sie PrĂ€ventionsarbeit. Und die ist dringend nötig.“

 

Kurzkommentar (Admin)

Vor vierzig Jahren, bereits 1983  waren „Ehrenmorde“ stark diskutiertes Thema in der Bundesrepublik, auch im Fernsehen, im SPIEGEL und den Zeitungen. Und ich diskutierte das Thema mit meinen SchĂŒlern in der Gemeinschaftskunde. Damals erschien als Suhrkamp Taschenbuch die soziologische Studie  Die Gewalt der Ehre“. ErklĂ€rungen zu einem tĂŒrkisch-deutschen Sexualkonflikt von Werner Schiffauer. Inzwischen bezeichnen neue Begriffe wie „Parallelgesellschaften“ das chronisch gewordene Scheitern der Integrationsversprechen der aller seither in Bonn und Berlin regierenden Koalitionen.

Es ist deprimierend, zu sehen, wie wenig soziologische Studien in der gesellschaftlichen Wahrnehmung zu bewirken vermögen, lĂ€ngerfristig schon gar nicht. Und wie viele ‚historische Erfahrungen‘ vergessen gehen. Damals zeigte das ZDF in seinem Format „Kleines Fernsehspiel“   die Kinodramen  SĂŒrĂŒ – Die Herde (1979) und Yol – der Weg , der 1982 in Cannes die Goldene Palme gewann (LINK) von Yilmaz GĂŒney (LINK). Erden Kirai’s Milieustudie „Eine Saison in Hakkari“ (1983, LINK) hatte einen deutschen Koproduzenten. Sie zeigten das Schicksal der kurdischen Bevölkerung im Osten Anatoliens, ihren wirtschaftlicher Niedergang und die militĂ€rische Repression gegenĂŒber der ethnischen Minderheit, und schließlich die staatlich betriebene Auswanderung aus der Heimat nach Ankara, Istanbul oder gleich direkt in die Bundesrepublik, eine WinWin-Situation fĂŒr das ab 1980 herrschende kemalistische (LINK) MilitĂ€rregime ebenso wie deutsche ‚Arbeitgeber‘, die auf jeden ‚Gastarbeiter‘ scharf waren. Schon damals waren „Ehrenmorde“ in Deutschland ein Ergebnis des Kulturschocks.

Jeder Jahrgang fĂ€ngt wieder von vorne an. Schlimm, wenn ‚die Welt‘ gleich nach eigenem Geschmack ganz neu erfunden wird. FĂŒr nur 6,89 € ist das kleine Buch auch heute im Netz zu kaufen. Es fehlen heute solche Editionen mit großer Reichweite. Stattdessen schreien auf den BĂŒchertischen viele Stimmen durcheinander, wenn ein Thema zum hype wird.

Bewertung (Englisch) bei Goodreads , eine vonLucas Nichol am 27.11.2020:

Wenn Sie mehr ĂŒber das Scheitern der Integration in Deutschland erfahren möchten, lesen Sie dies… Ich war durchweg kritisch gegenĂŒber einem deutschen Sozialarbeiter, der ĂŒber TĂŒrken schrieb, aber Schiffauer hatte tatsĂ€chlich einen ziemlich beeindruckenden Hintergrund soziologischer Kenntnisse, als er dies schrieb.“

ISBN 10: 3518373943 / ISBN 13: 9783518373941
Verlag: Suhrkamp, 1983
Die Gewalt der Ehre. ErklÀrungen zu einem: Schiffauer, Werner

 

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