„Winternomaden“ Manuel v. Stürler

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Der Dokumentarfilm – Nachdenken über das Medium

 Der Film über einen viermonatigen winterlichen Schaftreck – einer Transhumance – von achthundert Schafen durch die Westschweiz von heute ist nicht nur bildstark, er regt mich auch spontan zum Nachdenken über das Medium Film an. Nähere Informationen, etwa den Filmtipp in Zeit-online samt Trailer findet man leicht im Netz. www.zeit.de/video/2012-12/2044657529001/kino-filmtipp-winternomaden-von-manuel-von-stuerler

Die Frage nach dem Abbildcharakter dieses Films drängt sich vor, aufdringlich wie ein Leitschaf. Gelegentlich rechte ich immer noch mit Vilém Flussers pauschalem Urteil über das Kino im Allgemeinen und speziell über Dokumentaristen, auch jetzt wieder.

Nicht einmal digitale Spezialeffekte werden in „Winternomaden“ genutzt, nur die ruhige Handkamera. Also ist der Film ein Fenster zur Welt?  – nein, das wäre zu naiv.

Beginnen wir mit der gezeigten Winterwanderung. Sie repräsentiert kaum das heutige Leben in der Schweiz, ist eine Randerscheinung, „aussterbend“, wie man sagt. Doch in diesem Zustand ist sie nicht einmal autonom oder gar autark. Wenn man uns im Nachspann sagen würde, der gezeigte Treck sei eigens für den Dokumentarfilm ein letztes Mal wiederbelebt worden, wir würden es problemlos glauben. Der Film hat zudem ein Drehbuch und der Autor hat für den Film zwei Jahre lang recherchiert.

Flusser hat Recht: Das Spezifische an der filmischen Geste ist der Filmschnitt: im Weglassen, in der Auswahl, in der Montage, der Aufteilung und der Balance der vermittelten Aspekte. „Winternomaden“ ist darin kunstvoll: So gibt es keine Hintergrundinformationen, keine Statistik, keinen autoritativ aus dem Off operierenden Erzähler, der die Deutungshoheit über das Gezeigte behaupten, die drei Protagonisten zu beschränkten Laien-Darstellern degradieren und die Dynamik in deren Beziehung kanalisieren würde.

Wir können uns sogar selber auf der Leinwand repräsentiert finden, in Zufallsbekanntschaften am Rande der Strecke. Wenn wir uns in ihnen erkennen, geben wir darin keine tolle Figur ab: unsicher im Auftreten, unbedarft, den Fotoapparat in der Hand, am besten noch ein Almosen spendend in vager Erinnerungen an die Gepflogenheiten traditioneller Gastfreundschaft. Wie kommentierte eine Freundin: „Keine Sympathieträger“. Wem in den Sitzreihen vor mir ginge es dabei anders? Natürlich können wir uns von den beiden abgerissenen Kleinbauern aus der Westschweiz distanzieren, die der Herde den  Durchzug verweigern. Sie haben aber offensichtlich gute Gründe für ihren Geiz. Und dann taucht immer wieder der Boss der Schäfer im eleganten SUV auf der Bildfläche auf. Er spielt die Rolle des modernen Agrarunternehmers in einer Zweideutigkeit aus, wie wir sie aus gesellschaftskritischen Features über die Dritte Welt gewohnt sind.

Spätestens mit der Selektion der ersten fünfzig Schafe vor Weihnachten verdunkelt sich die rauhe Winteridylle zu einem nur scheinbar anachronistischen, im Grunde aber ökonomisch durchdachten Tiertransport, wodurch z.B. die Winterfütterung entfällt. Schäfer und Schäferin werden auch in unseren Augen zu dem, was sie immer schon sind: zu Gehilfen, ja zu kleinen Rädchen im System. Zwar spricht der Hirt Jean irgendwann von Leidenschaft – übrigens in der diplomatisch angelegten Konversation mit einem der beiden Bauern – aber er thematisiert mehrfach das Aussteigen, das Aufhören, das Altern – nicht anders als ein im Apparat resignierender Funktionär bei Flusser. Hätte ein traditioneller Nomade jemals so geredet, auch wenn Konflikte mit Dorfbewohnern um Wasser und Weide immer schon zur Realität des Viehtriebs gehört haben? Der ärmliche Bauer an Krücken wird deutlicher: „Sie haben es sich ausgesucht“. Die Gehilfin Carole wollte ja eigentlich nach Rumänien.

Die Spannung des Films lässt bis zum Ende kaum nach. Sie braucht keine Verstärker. Sie entsteht aus dem Grundkonflikt des Vorhabens inmitten unserer Alltagswel und dem Stress einer ständig ungewissen Situation Ein kleines Epos, auch wenn „Dokumentation“ draufsteht. Auch das ist Erzählökonomie! Man vergleiche nur den entsprechenden Aufwand des Filmformats „Tatort“. Eine genial einfache Erzählung, die sich voll und ganz auf den Filmschnitt verlässt:

Das Publikum will persönliche Hintergründe erfahren?  Zwei Szenen mit Freunden sind wie zufällig dafür reserviert. Die verschiedenen Szenen von Dezember bis März sind abwechslungsreich und plausibel montiert. Weder die Einblendung von Landkarten oder gar der Route, noch eingeblendete Kalenderdaten stören die Freiheit der Montage. Wiederholungen werden möglichst vermieden. Dem aufmerksamen Zuschauer genügen zu ihrer Vergegenwärtigung ohnehin kurze Einstellungen. Die erhöhen den Eindruck von Authentizität. Man kann gar nicht beurteilen, ob die Situation nur wenige Sekunden hergegeben hat oder die Einstellung beim Schnitt gekürzt worden ist.

Hat der Film auch etwas von Platos Höhlenwand? – Ja. Etwas wird auf sie projiziert. Sie spiegelt uns Dinge und Geschehnisse wider, die jemand für uns inszeniert hat und wovon wir bloß farbige Schatten – auch Töne gehören dazu – wahrnehmen. Jeder Betrachter hat etwas anderes gesehen. Etwa Philosophen, die aus dem Sonnenlicht in die Höhle zurückgekehrt sind – auch die müssen ja irgendwo bleiben – jeder sieht etwas anderes. Flusser philosophierte 1974 über Wände, denen ja er das Kino zurechnete: Unsere Wände sind späte und dekadente Formen der Höhlenwände („Vom Stand der Dinge“: 76). Und dann sprach er über unsere Kultur ihrer Ausschmückung. Manchmal bedecken diese Dinge, die Kultur ausmachen, mehr als nur die Nacktheit der Wände. Sie verdecken Risse in den Wänden und verbergen die Gefahr, dass das Gebäude einstürzen und uns unter seinen Trümmern begraben könnte. (77)

Es trifft zwar zu, dass die neue, übrigens digitale Projektionsmaschine des Programmkinos „Mal seh’n“ in Frankfurt von der Europäischen Union gesponsert worden ist. Doch wozu?

„Winternomaden“ scheint mir jedenfalls keine verdeckende und verbergende Projektion zu sein. Wenn deren Wahrnehmung aber vom jeweiligen Blickwinkel oder präziser von der Haltung des Kopfes abhängt? Der ist ja schließlich nicht wie in Platos Gleichnis festgebunden. Das hieße, dass auch beabsichtigte oder auch nur erwünschte Wirkungen von Kunst beim Publikum nicht wirklich zu steuern sind. Der Unternehmer schaut zwar auf den Durchschnitt der Besucher und mag sich dabei beruhigen. Am Künstler nagt der Gedanke schon.

Geschrieben über die Jahreswende 2012/13

Literatur:

Flusser: “Die Geste des Filmens” in “Gesten”, 1991,1995 in Fischer Wissenschaft, S. 119-124; weiteres zum Film in Marburgers Dissertation.

Abbildung:  Schafidyll in den Hügeln um Frankfurt, Februar 2011

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