2020, am 15. April : Wählerschaft und politische Klasse in diesem skandalösen Kleinstaat scheinen unfähig zur Regierungsbildung. Ihrem unverwüstichen Repräsentanten droht wieder einmal eine Anklage wegen Korruption. Aber ist das überhaupt politisch von Bedeutung?
Nein, sagte vor über zehn Jahren bereits Ilan Pappe in „Die ethnische Säuberung Palästinas“ (2006 London, dt. bei Zweitausendeins 2007)
Im „Corona“ Stop-down erweisen sich Buchspender wieder als großzügige Mäzene. Der offene „Bücherschrank“ vor der Wartburg-Kirche in Frankfurt ist gut gefüllt. Ich greife zu dem offenbar ungelesenen Exemplar mit intaktem Schutzumschlag und rätsele über den Hintergrund des Autors „Ilan Pappe“. Nie gehört.
Dann ist es doch keine Überraschung: „einer der Protagonisten der ‚Neuen israelischen Historiker'“, 1954 als Sohn deutscher Juden in Haifa geboren, promovierte in Oxford, war Leiter des Friedensforschungsinstituts in Givat Haviva und Politologe an der der Universität Haifa bis 2007, siedelte dann nach Großbritannien über und lehrt an der Universität Exeter (LINK).
Wieso habe ich die ganzen dreizehn Jahre darüber nichts erfahren? Nicht einmal im Buchladen des Verlags Zweitausendeins? Was können Bücher überhaupt bewirken? Später frage ich mich, warum nicht bereits bei der Lektüre von Tom Segev „Die ersten Israeli“ so deutlich mitbekommen habe, ob selbst der das generalstabsmäßig organisierte Verbrechen an den ansässigen Palästinensern 1948 etwa bewusst verharmlost habe.
Die Erscheinungsdaten beider Bücher geben eine Antwort. Die erste englische Ausgabe von „Die ersten Israelis“ erschien bereits 1986, und dann hat der Siedler Verlag die bereits 1998 überarbeitete zweite Ausgabe erst 2008 deutsch herausgebracht, zwei jahre nach Ilan Pappes Studie.
Ilan Pappes Thema ist die historische Rekonstruktion von militärischer Planung und Ausführung der Vertreibung, sodann des Vergessens und der erfolgreichen Geschichtsfälschung. Nach Überzeugung des Verfassers hatte der „Friedenprozess“ der Neunziger Jahre nie eine Chance, wegen der Verleugnung systematischer Vertreibungen, wegen des „Ausschluss(es) der Ereignisse von 1948“, auch nicht unter dem Hoffnungsträger im Westen: Izak Rabin.
Die „Festung Israel“ ist noch immer mit dem „demografischen Problem“ ihrer frühen – nicht zu vergessen – säkularen zionistischen Planer konfrontiert,in ihrem angestrebten Nationalstaat nur eine Minderheit zu bilden. Seit 1948 geht es darum, „die Bevölkerung im Staat ‚weiß‘ zu halten, spricht: nichtarabisch“ (S.330).
Ein zweites Element kommt dazu: „Seit annähernd zwei Jahrzehnten kann sich der Staat Israel schon nicht mehr auf eine überwiegende jüdische Mehrheit berufen“. Und dass es säkularen Juden immer schwerer fallen soll, zu definieren, was denn ihr Judentum im ‚jüdischen Staat‘ ausmacht. (S.329). Pappe verweist dazu zum Beispiel auf die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion.
„Im Wahlkampf für die Knesset 2006 diskutierten Experten die Frage der ‚demografischen Balance‘ ganz ähnlich, wie Mehrheitsbevölkerungen in Europa und den Vereinigten Staaten über Zuwanderung und die Aufnahme oder Abschreckung von Einwanderern debattieren. In Palästina entscheidet jedoch die Einwanderergemeinde über die Zukunft der einheimischen Bevölkerung, nicht umgekehrt.“ (S.325)
Die starke Emotionalisierung des Themas in Israel (S.327) ist eine Realität. Fraglich ist nur, ob wir bereits ‚als Deutsche‘ uns der Emotionalisierung andernorts unterwerfen müssen. Dürfen doch auch ‚deutsche‘ Kritiker israelischer Staatlichkeit emotional aufgeladene ‚Werte‘ haben. Nein? Das wäre ja noch schöner! Menschenrechte sind nunmal – wenn man sie überhaupt in ihrer Abstraktion anerkennen will – unteilbar.
Oder sollen wir lieber erst an der VR China oder an Trumps Amerika ein modernes deutsches ‚Rückgrat‘ – laut Kieser mental und physisch – trainieren? Ich spüre schon: Sie lachen mich aus.
Man kann etwas tun, in der Berichterstattung
Bereits seit 1969 ärgert mich die immer wieder gedruckte Behauptung, der Staat Israel – oder auch „die einzige Demokratie im Nahen Osten“ – drohe seine politische Unschuld zu verlieren oder habe sie jetzt aber doch verloren, oder wahlweise seine „Liberalität“. Kein anderes Regime durchleuchtet seine ‚Bürger‘ wohl so effektiv wie dieser hochgerüstete moderne Kleinstaat im permanenten Ausnahmezustand.
Es scheint so etwas wie ein bewährtes Konzept bei Redaktionen zu geben: Man schicke in kurzen Abständen unerfahrene oder oberflächlich urteilende Journalisten ins Land und lasse berichten. Kritische Literatur bearbeite man mit gehöriger Verspätung.
Eine Ausnahme von der Regel lag als angegilbter Zeitungsausschnitt im glücklich gefundenen Buch: „So werden Staaten gemacht – Tom Segevs Klassiker „Die ersten Israelis“ liegt endlich auf Deutsch vor“, von meinem Altersgenossen Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau 8. Juli 2008. – Der Titel relativiert das Thema, aber der Text tut das nicht. (Zur Vergrößerung bitte anklicken)
Manches wird verständlicher: So die Verachtung der im Land geborenen Siedler, ‚Sabras‘, für die ‚Seiflinge‘, die eingewanderten Überlebenden des Holocaust. Mit dem Eichmann-Prozess 1961 lancierte die politische Elite Israels extra ein Umerziehungsprogramm für grob gestrickte Neusiedler und Profiteure der palästinensischen Vertreibung. Die Verrohung durch Krieg und Kriegsbeute galt auch für die Juden, die sich am palästinensischen Beutegut bereichert hatten.
Die israelische Suche nach ‚aktiven‘ jüdischen Widerständlern im europäischen Holocaust verdienen nicht den bei uns offiziell bekundeten Respekt. Der Pädagoge Janusz Korcak hat meine größte Hochachtung.
Als Deutscher, der mit Reemtsma’s ‚Hamburger Edition‘ und dem Fernsehen sich über nationalsozialistische Profiteure von ‚jüdischem‘ bürgerlichem Vermögen aufgeregt hat, etwa im Fall von Josef Neckermann – und bis heute aufregen soll – erwarte ich:
‚Juden‘ sollten nun wirklich in der ‚menschlichen Gesellschaft‘ angekommen sein. ‚Ihr‘ Staat im Nahen Osten – wenn es denn ‚ihrer‘ ist – soll jeden Anspruch auf ‚positive Diskriminierung‘ aberkannt bekommen. Durch staatliche und parastaatliche Verbrechen traumatisierte und neurotisierte Individuen gibt es überall in der Welt. Nationale Gedenkstätten hat schließlich fast jeder moderne Staat, auch Diktaturen. Man muss sie wohl in gutem diplomatischem Stil tolerieren, aber man sollte ihnen nicht unbesehen besondere Ehre angedeihen lassen.
Die Opfer des Holocaust waren Europäer, keine Israeli. Unser Gedenken gehört nach Deutschland und an die Tatorte in Europa.