Der Ethnologe als ideeller Faktorist . Streichhölzer

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Die_Gartenlaube_(1884)_b_613_Faktorei Aquastadt, Cameroon-River

Die_Gartenlaube_(1884)_b_609_Hulk Inneres

Gerade weil die Schwarzen keine ‚Kinder’ waren und sind, sind einseitige Schuldzuweisungen an die Weißen Unsinn. Die europäischen Faktoristen – die Besatzungen der Handelsstützpunkte Westafrikas – kamen als Glücksritter in ein fremdes, sie im Grunde abstoßendes Land, und in ein fertiges System, das sie erst allmählich zu durchschauen lernten. So gehen heute tausende Glücksritter nach China und scheitern.

Wie waren die afrikanischen Individuen wirklich?

Woran das beurteilen? An ihrem Verhalten? An Anpassung, Unterwerfung einerseits, Ausnutzen der geringsten Chance, Lücke, Nische andererseits? Aber alles andere wäre doch sträflich dumm gewesen. Die uralte Jäger- und Sammlermoral begegnete den Afrikanern täglich in ihren neuen Herren wieder.

Die Antworten moderner Anthropologen können ins andere Extrem fallen: In Dunja Hersaks Aufsatz „Spirits in Congo-Brazzaville“ ist über ein halbes Dutzend Seiten die ‚Antwort’ überfrachtet von extrem segmentiertem Lokalwissen, in dissonanten Frosch-/Forscher-Perspektiven, ein ideales Feld für analytische Florettgefechte.

 

Der Ethnologe als ideeller Faktorist.

Was erfährt der Ethnologe, wenn er sich auf die andere Seite traut? Wem glaubt er? Dem Alten? Dem Übersetzer? Der Zufallsbekanntschaft wie alle Welt? Er fragt ausgerechnet nach dem, was man von Fremden am wenigsten erfahren kann.

Flusser würde über die Naivität lachen. Bilden doch völlig unbedeutende Geheimnisse den Kern jedes Familienschatzes. Die Bibliothek, die damit untergeht, ist das rhetorische Mausoleum nicht wert, das darüber errichtet wird. In der Geschichte verschwinden viel größere Realitäten fast ohne Spuren. Die heute in Massenmedien mit Bildungsauftrag grassierende Archäologie bringt nur kriminologische Exhumierungen zuwege, etwa: Woher und wann wanderten die ersten ‚Amerikaner’ ein? ( ZDF-terra x) – Da ist der Bericht in der Süddeutschen Zeitung über das „Geschäft mit falschem Gold“ von größerer Relevanz!

Anthropologen benutzen manchmal  als Gegenmodell zu ihren afrikanischen Mythen den Mythos des westlichen Individualismus. Meinen sie damit das Verhalten oder die innere Einstellung? Beides wäre nicht gerechtfertigt. Je mehr der Individualismus in unserer Gesellschaft in den Vordergrund gerückt wird, desto mehr erscheint er mir als Fata Morgana, als Oberflächenspiegelung. Was sich junge Leute heute von diversen Systemen gefallen lassen, ist schon erstaunlich. Sie nutzen noch die letzte Nische, aber brav auch nur die. Die Köter kläffen, aber die digitalen Betriebssysteme ziehen weiter. Wer außer Altersdementen, Feiglingen und Extremisten will noch zurückbleiben?

 20.2.2017, bekräftigt am 2.5.2020

 

BASHING TWO :  STREICHHOLZ-ETHNOLOGIE

In diversen meist englischsprachigen ‚Aufsätzen‘ begegnet sie mir immer häufiger, die neue Norm der wissenschaftlichen Publikation, soweit sie kein Buch ist, nicht nur bei academia.edu, wo Häppchen mit schmissigen Titeln aufgedonnert werden, bloß um durch –zig ähnliche Artikel‘ relativiert zu werden. Dem Aufbau nach ähneln sie Streichhölzern: vorn die aufgestrichene Ladung, um die Aufmerksamkeit zu entflammen, dahinter brennt das dünne präparierte Holz rasch ab.

Eine Streichholz-Ethnologie, von der mir S. erzählte, dass er das Anschläge-Limit mit seinem Artikel schon genehmigungspflichtig überschritten hatte. Ich hatte von seinem Aufsatz mehr erfahren wollen.

Das sind die Standards: Einführung und Einbettung (viel Theoriediskurs und vielleicht etwas Vorgeschichte), im Zentrum die These, dazu Belege, detaillierte Bilanz und ein paar Punkte für das ‘Andocken’. Materiell sind es Häppchen. Mehrere zeitversetzte kurze ‚Feldaufenthalte‘ nach dem Muster vorher – nachher machen die Ergebnisse auch nicht interessanter.

R. kann die Welt der Geister nicht mehr zum Leben erwecken, leer erscheinen deren Namen. Wie dünn ist der Traditionsfaden der Maskentänzer, die seit vierzig Jahren oder länger über den Traditionsverlust lamentieren und nun die Reste dokumentiert sehen wollen. Die Gesellschaft, die Kolonialgeschichte, das unvermeidliche Christentum, die Touristen, die Wanderarbeit der Jugend, … alles das ist nicht Thema, dafür aber die Beziehungskiste der Ethnographen mit den Ethnographierten sowie das Verhältnis zu den übrigen Ethnographen. Müssen wir das alles erfahren? Ist das zu etwas gut?

Dagegen kann T.S. in “African Arts”  die Dramaturgie einer besonderen offiziellen Parade beschreiben und interpretieren – bei deren Publikum machen auch ‘Häppchen’ Sinn. Trotzdem. Was ist an den zum Aufmarsch gewordenen Vorstellungen einer ‚besseren‘ Côte Canaille überraschend, außer dass der mit praktischer Vernunft begabte Rebellenführer sie in seine Aufmarschpläne aufgenommen hat? Nichts wirklich. Ich wüsste unbedingt gern mehr über den regionalen Rebellenchef und sein Verhältnis zum ausgetricksten Präsidentschaftskandidaten B., über den komplexen politischen Prozess u.s.w.

Ich muss immer an die – vom Hotelbalkon vorgenommene – Analyse einer ‘Parade zum Nationalfeiertag’ in einem anderen afrikanischen Land durch eine Kieler Professorin denken – Stichwort ‘nation-building’ – und an den Komfort solcher Feldforschung. Ihre Doktorant(inn)en schickt sie in weitere Länder,  auch in notorische Diktaturen. Merkt doch keiner.

Dem R. könnten  Touristen Konkurrenz machen, die zur Vogelbeobachtung auf die Insel kommen.

4.10.18 Upload: 2.5.20

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