Etwas Munition für die Kapitel 11 und 12 (Nov/Dez)

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Verfasst im Cafe „Moksha“, Sonntag, den 9.9.; Bearbeitung 21.10.2012

Im vorletzten 11. Kapitel, „Willensbejahung und Willensaufhebung“, vergegenwärtigt uns Urs App noch einmal den bisher gegangenen Weg. Seine Darstellung bietet immerhin Diskussionsstoff. 

Im Kontext der Willensaufhebung schreibt Schopenhauer: „In seltenen Fällen entsteht ohne äußeren Anlass ein Begehren, freiwillig vom Lebenwollen zu lassen“ (190). Den „Selbstmord“ (kursiv im Original) kritisiert er dabei als zu kurz greifenden Erlösungsversuch. Er vermischt in seiner Argumentation individuelle und universelle Ebene. Ein  größenwahnsinniges  Motiv (S.190f.) für den Freitod?

Auch bei der Abwertung des zeitweiligen „Kunst- und Musikerlebnisses“ (S.193) hat Schopenhauer seine Prinzipien im Blick. Oder etwa ein esoterisch gestimmtes Publikum mit Hang zur schwärmerischen Vergeistigung? Immerhin treten Zacharias Werner und Madame Guyon aus dem 2.Kapitel wieder auf, werden als verlässliche Zeugen gewürdigt. Es geht um ein „Aufgeben des Ichs im Sinne von Zacharias Werner und Madame Guyon“, nicht nur um sein „zeitweiliges Vergessen“(194). Wenn Hegel diesen „seligsten Zustand“ als >orientalischen> Zustand, „als stupiden Zustand auffasste“, sollte man das nicht gleich abtun (S.191).

Zacharias Werner war der Thesen-Dramatiker aus dem 2. Kapitel. Ich erinnere mich: Unser Germanist Rothe stöhnte auf in Erinnerung an eine lange zurückliegende Lektüre! Ist meine Sicht der Dinge zu eng, unangemessen? Man wird dem stürmischen jungen, in Dresden sozusagen eingekapselten Mann die schwärmerische Weltanschauung und den unbedingten Willen zum System vielleicht nachsehen.

In der dann folgenden philosophischen Verpackung wird Liebe zur „Gesinnung“ (192). Wo ist die spontane Empfindung von Mitleid aus Schopenhauers Mitleidsethik, wo die unvergessliche Szene des Barmherzigen Samariter? Stattdessen Heiligenlegenden!

Es ist wohl noch eine Wegstrecke bis „Über die Grundlage der Moral“ (1839). Schopenhauer reift in seinem Werk. Es ist von Liebe – „alle ächte Liebe ist Mitleid“ – die Rede, aber es geht auch darin um die Verankerung des philosophischen Systems mittels einer Erkenntnis-Methode: „Diese Gesinnung entspringt aus dem Durchschauen des principii individuationis“. „Eben daher auch braucht er nicht selbst das Leiden zu erfahren, da er sich den Schmerz der ganzen Welt zueignet“ (#584). – Wie gut, dass die letzten Dinge 1814 dem gesunden jungen Mann in seinem trockenen Quartier einer ruhigen komfortablen Provinzstadt zufallen, kaum ein Jahr, nachdem in Europa ein furchtbarer Krieg zu Ende gegangen ist.

Auf  S.192 holt App „Madame Guyons Autobiografie“ wieder. Schopenhauer hat 1817 deren Lektüre wiederholt. Sein ungewohnt nachsichtiges Urteil zitiert App: „Jeder Edelgesinnte wird indem er diese wahrhaft heilige Frau kennen lernt, den tiefen Aberglauben in dem ihre Vernunft befangen war, übersehn, als eine zufällige Beimischung“ (#676) Darüber wüsste ich gern mehr. Was hieß kennen lernen? Worin bestand ihr Aberglauben? Ob wir uns solcher Nachsicht anschließen können?

Vielleicht hilft Googeln bei der Entscheidung. Es handelte sich bei dieser Mystikerin (1648 – 1717) um eine begüterte Witwe (1676) von Stand, die eigentlich Nonne hatte werden wollen und bereits früh erfolgreiche Erbauungsliteratur verfasste. Sie hatte nach 1676 Einfluss auf höchste Kreise Hof von Versailles unter Ludwig dem Vierzehnten, in einem ebenso intriganten wie bigotten Milieu. Die Spitzen der katholischen Kirche Frankreichs, mit der sie sich wegen ihres „Quietismus“ (siehe unten!) überwarf, nutzten ihre Verbindungen bei Hofe , um sie für einige Jahre in  Klöstern und  speziell für den Adel reservierten Festungen internieren zu lassen. „Nach ihrer Freilassung zog sie sich zurück zu einem ihrer Söhne in Diziers bei Blois. Hier verbrachte sie die letzten Jahre ihres Lebens, nur noch brieflich mit ihrer wachsenden Anhängerschaft verbunden, die sie nicht zuletzt in protestantischen Kreisen in England und in Deutschland fand“, so der Wikipedia-Autor. Schopenhauer kannte ein (überschaubares) höfisches Milieu von Weimar und er hatte seine schriftstellernde Mutter vor Augen, aber die Herzensergüsse der frommen Dame vom Format eines Sektengründers, passten so gut auf seine theoretischen Bedürfnisse! Google bietet eine Schrift in der deutschen Übersetzung aus dem 18.Jh.. Ich zitiere eine Titelseite:

IMG-Mme GuyonNaturgemäß bezieht Schopenhauer seine Heiligenlegenden von Printmedien, im Fall der Mme Guyon sogar im klassischen Format der Selbststilisierung, der Autobiografie. Es ist nicht die Begegnung mit einem lebendigen Menschen, der eine überprüfbare reale Erfahrung geboten hätte. In solchem Mediengebrauch ist Schopenhauer fast unser Zeitgenosse, wie Henning Ritter im Essay „Der Augenblick der humanen Empfindung“ (FAZ, 27.9.2003,Nr.225,S.39 ) zeigt. Der Untertitel „Grausame Taten betrachten: Das neunzehnte Jahrhundert erfindet eine Religion des Mitleids mit Leiden in der Ferne“ verweist auf ein zentrales Feld des schopenhauerschen Denkens.

Vom Lebenwollen zu lassen“ – Für diesen Pol von „Schopenhauers Kompass“ habe ich jüngst ein Beispiel von weniger zwiespältiger Qualität gefunden: den buddhistischen Mönch Deng Kuan, Warum traue ich in diesem Fall meinem Gewährsmann, Liao Yiwu? Ich kenne ihn als einen Autor, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Er protokolliert die Begegnung in einem ganzen sozialen Panorama des zeitgenössischen China: „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser – Chinas Gesellschaft von unten“ (S.Fischer Verlag 2009). Doch warum halte ich den hundertjährigen Mönch Deng für einen Heiligen? In dem Buch steht nichts davon.

Unter Maos Herrschaft macht er Qualen biblischen Ausmaßes durch und bewahrt darin eine nicht nachvollziehbare Festigkeit. Wo er der Übermacht nachgibt, verliert er nicht seinen inneren Kompass. Dass nach alledem der örtliche Parteichef regelmäßig die wenigen Einnahmen des Klosters erpresst, kommentiert er mit dem Satz: „Wenn der Rachen von einem Gierhals nicht zu groß ist, kann ich ihn doch stopfen“ und auf die Frage, wie so das zerstörte Kloster aufgebaut werden soll: „Ach, was geht, das geht.“ (ebd.155) Hierin und in seinen Überzeugungen ist er konträr zur normalen Welt, aber er diagnostiziert sie nüchtern. Er schwärmt nicht, er doziert nicht. Er hat nach eigener Aussage „keine Lehrschrift zustande gebracht“. Als Landkind und hat er erst im Kloster seinen Bildungsweg begonnen. Überdies ist er schon als Hundertjähriger fast ein Heiliger. Also ein sehr fremder Mensch, kein Seelenfänger! Schopenhauer hätte seine Freude an ihm, an seinen buddhistischen Überzeugungen und an seinem exemplarischen Fall. Und für die These einer  Hölle auf Erden, kenne ich kein schlagenderes Beispiel.

 

Das Schlusskapitel „Perspektiven“ (201 ff.)

Je näher Urs App dem fertigen Hauptwerk Schopenhauers kommt, desto bekannter kommt einem alles vor. Jetzt hält er noch den Fachkollegen, die schließlich seine wichtigen direkten Adressaten sind, ihre Versäumnisse vor. Wie gut, dass er sich das so lange aufgespart hat! Wieviel akademisches Wäschewaschen ist uns erspart geblieben. Man versteht aber, warum die Studie ein wissenschaftliches Buch werden musste, eben um das nötige Gewicht in die Waagschale zu werfen für eine Neuorientierung (206ff.), einen Paradigmenwechsel in der Schopenhauer-.Rezeption.

Ein weiteres Thema ist die unter Fachleuten verbreitete These, die „indische Inspiration“ Schopenhauers sei durch die Übersetzer „vergiftet“ (208f.) worden. Haben sie deshalb bis heute einen Bogen um das Oupnek’hat gemacht oder nicht vielmehr, weil sie davor zurückschreckten, Schopenhauer unlesbares Lieblingsbuch zu schultern? (Ich will’s auch nicht im Original lesen).

App hat auch Recht gegenüber dem verbreiteten Authentizitätswahn, aber das ist ein weites Feld. In diesem Kontext bringt er auf S. 210 ein Zitat, das er meines Erachtens inhaltlich nicht genügend auslotet: Über die Direktübersetzungen urteilte Schopenhauer: „Alles ist modern, leer, fade, sinnarm und occidentalisch: es ist europäisiert, anglisiert, französirt, oder gar (was das Ärgste) deutsch verschwebelt und vernebelt …“  Also: Modern gleich leer gleich authentisch? Ich würde das gern besser verstehen! Schade, dass wir den Professor Hans Blumenberg (+ 1996) nicht mehr fragen können.

Am Schluss (211) reitet App eine kurze Attacke gegen eine „psychologisierende“ Deutung des angeblichen „Pessimismus“. Er selber erklärt ihn als gegensätzliche Position zu Leibniz (212) und rückt ihn in eine – von allen Heiligen und Unheiligen – ferne Sphäre akademischer Doktrinen. Mit dem Hinweis auf die Haltung „des Buddhismus“, dessen „Leidensrealismus“, drückt er sich um eine differenzierte Antwort. Der ganze auf zweihundert Seiten ausgebreitete Bildungsroman des jungen Schopenhauer verlangt eine andere Sprache dafür.

wikipedia:  Quietismus (von lat. quietus, „ruhig“) bezeichnet eine Sonderform derchristlichen MystikTheologie und Askese. Der Quietismus hat seine Wurzeln imkatholischen Bereich, wurde jedoch vom Lehramt als Irrlehre und falsche Form der Lebensführung verworfen. Kernaussage ist, dass der Mensch zunächst sein Ich völlig aufgeben und an Gott übergeben müsse, um danach in völliger Ruhe und Gleichmutzu leben. Sobald dieser Zustand im inneren Gebet, in der Schau Gottes erreicht ist, werden äußere asketische Praktiken eher hinderlich. Der Quietismus des Gebeteslehnt daher das mündliche Gebet, den Empfang der Sakramente, überhaupt alle äußerlichen religiösen Formen ab, der Quietismus des Lebens zudem die Bedeutung des Tugendstrebens und des Kampfes gegen die Sünde (Askese). Wichtige Vertreter sind u. a. J. Falconi de BustamanteFrancois MalavalMiguel de Molinos und Madame Guyon. Der französische Erzbischof François Fénelon bereinigte die Lehre von Inhalten, die sich gegen eine moralische Lebensführung aussprachen und sprach sich v. a. für eine selbstlose Liebe aus. Doch weil er damit in einen Rigorismus verfiel, verwarf das Lehramt unter Papst Innozenz XII. 1699 seine Aussagen alsSemiquietismus.

 

 

 

 

 

 

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