Lehrer erleben 1968 – Bilanz des Interview-Projekts 2001

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                       Marianne von Graeve – Lehrer erleben 1968

10.1.2021  Da der Bericht seit einiger Zeit alle paar Tage aufgesucht wurde – inzwischen dreihundert Mal – und das Layout langweilig ist, lade ich den Originaltext als PDF hoch. (Admin. Detlev v. Graeve)

LINK: Marianne von Graeve „Lehrer erleben 1968“

Wenn von den „Achtundsechzigern“ die Rede ist, kommen die Lehrer nicht vor. In Wolfgang Kraushaars neuer Aufsatzsammlung „1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur“, werden sie z. B. an einer einzigen Stelle hämisch als Spießer genannt, die Rudi Dutschkes Wort vom „langen Marsch durch die Institutionen“ heute noch ernst nehmen wollen (Kraushaar S.67). In früher erschienen Darstellungen, etwa von Mündemann oder von Bude, ist von allen möglichen Kulturschaffenden, Schriftstellern, Juristen, Verlegern usw. die Rede, aber Lehrer werden nicht erwähnt.

Eine Ausnahme bildet die 2000 erschienene Untersuchung von Reimer, die sich ausdrücklich dem Thema „Hamburger Lehrer und «1968 »“ widmet und zeigt, dass der „subjektive Erfahrungsschatz“ (nach Lutz Niethammer, vgl. Reimer S.13) der Lehrer vielleicht doch eine Nachfrage wert ist.

Spiegelt sich der  Wandel der Mentalitäten, den 1968 bewirkt haben soll, in ihren Lebensläufen, und hat dies Folgen für ihre alltägliche Praxis gehabt? Wie beurteilen sie heute ihre damaligen Ideen? Das habe ich im Frühjahr 2001 acht hessische Geschichtslehrer gefragt, die 1968 zwischen 14 und 32 Jahre alt waren.

Unter den von mir Befragten waren drei weibliche Lehrer und drei Pädagogen mit Funktionsstellen  (Schulleiter, Studienleiter, Fachbereichsleiter). Zwei davon waren seit kurzem pensioniert, alle unterrichteten oder hatten an Schulen unterrichtet, die als „fortschrittlich“ und “schülerfreundlich“ gelten. (Additive Gesamtschule, Oberstufengymnasium mit Schulverbund zu einer Gesamtschule).

Wer ein „Achtundsechziger“ sei, ist nicht unbedingt eine Frage des Jahrgangs. Lehrer und Lehrerinnen, die nicht zu den von Bude berücksichtigten Jahrgängen von 1938 bis 1948 gehören, die also1968 noch nicht oder nicht mehr an der Universität waren, können durchaus mit den Forderungen von 1968 verbunden sein. Und andererseits ist auch die Teilnahme an Aktivitäten des SDS keine Gewähr dafür, dass sich die entsprechenden Theorien in der Praxis der Betreffenden auch niedergeschlagen haben. Ob man sich als Achtundsechziger definiert, hängt vom Gefühl, der eigenen Entscheidung ab. (Vgl. Bude S. 38 – 47)

Alle acht Interview – Partner räumen den Ideen von 1968 einen erheblichen Einfluss auf ihre Unterrichtspraxis und auf die Veränderung der Schule ein, allerdings die älteren Befragten, bis einschließlich des Geburtsjahrgangs 1944, erst nach anfänglicher Distanzierung und auf genaueres Nachfragen. Nur die drei jüngsten Lehrer, (Jahrgänge 1945 bis 1954) die also 1968 am Anfang ihres Studiums standen oder sogar noch zur Schule gingen, bezeichnen den Protest von 1968 uneingeschränkt als „sehr prägend“ für ihre eigene Entwicklung, und dieser subjektive Eindruck wird durch die Berichte über ihren heutigen Unterricht bestätigt, wobei (vielleicht zufällig), ein Befragter des Jahrgangs 1944 eine eigenartige „Zwitterstellung“ einnimmt.

Im Gegensatz dazu beurteilt Reimer die Langzeitwirkung von „1968“ als eher unbedeutend. Die Lebensläufe der Porträtierten enden resignativ, mit Enttäuschung über die intellektuellen Mängel der neuen Schüler, die nicht mehr durch eine Aufnahmeprüfung ans Gymnasium ausgewählt werden, und darum die neuen Freiheiten, die die reformierte Oberstufe bietet, nicht sinnvoll nutzen können,

(S. 72/73), mit Frustration auch durch die Zensurenfixiertheit der Schüler (S.91 S.138, S.156), oder mit Verzicht auf das konfliktträchtige Fach Gemeinschaftskunde.

Die einzige mit erkennbarer Sympathie Porträtierte (und einzige Frau unter den acht ausführlicher Vorgestellten), flieht vor der Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität der reformierten Oberstufe an eine Reformschule in NRW (S. 156).

Das Bewusstsein, „der“ Achtundsechziger -Generation anzugehören, hat sich zwar im Laufe der Jahre verfestigt, aber „gleichzeitig verblasste die Wirksamkeit“ (S.329). Eigentlich hat sich am Unterricht gegenüber dem der Fünfzigerjahre nicht viel geändert. Die Wandtafel ist immer noch das wichtigste Möbelstück im Schulzimmer und der Unterricht ist lehrerzentriert geblieben (S.334).

Dass die von mir Interviewten selbst das anders sehen, mag zufällig sein, könnte aber auch daran liegen, dass die  Gruppe der nach 1944 Geborenen bei Reimer eher stiefmütterlich behandelt wird. Der Jüngste der von ihm ausführlich Porträtierten ist 1942 geboren, und die so genannten „Wirkungsachtundsechziger“ (272f) sind seiner Einschätzung nach erst an die Schulen gekommen, als bereits alles geregelt war (352f).

Vielleicht sind aber die Ideen von 1968 eher über die jüngeren Student(inne)n und indirekt über die später veränderten Hochschulen an die Gymnasien gelangt.

Im Folgenden möchte ich kurz zusammenfassen, was die Interviews ergeben haben, und mich dabei ganz eng auf den Bereich der Schule beschränken.

(691w)

 Die Zeit vor 1968

 Die Fünzigerjahre sind nicht so „unpolitisch“ gewesen, wie sie noch oft gesehen  werden, worauf Reimer hinweist (S. 140, S. 251). Doch werden in den Interviews die Wörter „dumpf“ und “verdummend“ in diesem Zusammenhang häufig verwendet. Schule, Elternhaus und Universität wurden  nicht unbedingt als bedrückend wahrgenommen, eher noch bei den weiblichen Interviewten als bei den männlichen. Die Älteren bei beiden Geschlechtern betonen trotzdem gern, dass sie 1968 nicht gebraucht hätten, um politisch wach zu werden. „Mein 68 war 60/61“ (Interview 2, vgl. Reimer S. 95).

Nicht untypisch ist die Darstellung der jüngsten Interviewten, die von einer kirchlich geprägten Jugend berichtet, die  „mit heftigen Scheuklappen in Elternhaus und Klosterschule von allen Informationen abgeschirmt  wird. Eine politische Tageszeitung gibt es zu Hause nicht, und von einem Ereignis wie der Erschießung Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 kann sie nichts erfahren, weil sie als Kind von 13 Jahren die Nachrichten im Fernsehen nicht sehen darf. „Um 8 Uhr mussten wir raus“. Als  Schüler(innen) anderer Schulen auf dem Schulhof zur Demonstration gegen die Notstandsgesetze aufrufen, werden die Schülerinnen von den Nonnen in den Klassenzimmern festgehalten.

In der Schule wird immerhin kontrovers über das Abtreibungsverbot diskutiert aber: „Ich wusste noch nicht einmal, dass es die Pille gibt(Interview 6).

Schülerinnen durften sich nicht schminken, Hosentragen war verpönt (Interview 5 und 6).

Die Erwachsenen nahmen die Jugendlichen nicht ernst, aber umgekehrt reagierte auch die jüngere Generation mit Verweigerung des Respekts.

Es war eine Glasglocke, wir waren auch unendlich behütet, aber wir wurden für dumm gehalten, die ältere Generation hat nicht mit uns gesprochen, ob das nun der Vater war, der Stiefvater, ob das die Mehrheit der Lehrer war…(Interview 4)

Bezeichnend ist folgende Episode aus der Referendarsausbildung:

Da habe ich gelernt: Der Lehrer verfügt über zwei Instrumente, das Auge und die Stimme, und der Ausbilder, den ich da hatte, der konnte das sehr nachhaltig vormachen, …  aber – den habe ich nicht ernst genommen, …

(Der Ausbilder ließ sich von den Referendaren die Tasche in den Unterricht nachtragen),  – Was 68 dann unmöglich gemacht hätte,…

(Ich) habe mich dann nach 68 diebisch gefreut, in der Zeitung zu lesen, dass die Schüler dieses Gymnasiums ihre Lehrer in irgend einem Flugblatt als hochgradige Neurotiker vorgeführt und sehr übel beschimpft haben, aber sehr zutreffend, wie ich fand.

Ich war da, als ich das gelesen habe, sehr solidarisch mit den Schülern…(Interview 3)

 Die Hauptkritik richtet sich gegen die unterrichteten Inhalte, wobei für den Geschichtsunterricht darauf hingewiesen wird wird, dass er im 19. Jahrhundert stecken blieb, den Marxismus weitgehend ausließ oder Marx nur behandelte, um ihn zu widerlegen, und sich methodisch auf das Auswendiglernen von Fakten beschränkte.

 Bei Bismarck war Schluss. ( …)

So wie ich damals Geschichte erlebt habe, so möchte ich nicht, dass ich Geschichte weiter gebe.

(Und wie war das?)

Zahlen. Große Herrscher, keine Strukturen, keine Sozialgeschichte. Wenig Quellen, und ein Unterricht, der darin bestand, dass sie erzählte, wir mussten den Text zu Hause nachlesen, dann wurden wir in der nächsten Stunde abgefragt, zehn Minuten, und dann erzählte sie wieder. Das war das Schema.

(Also Referat, Lehrervortrag?)

Lehrervortrag, das war nach meiner Erinnerung in der ganzen Oberstufe so. (Interview 6)

 Erstaunlicherweise ist aber das Fach, über das sich die Geschichtslehrer am negativsten äußern, das Fach Deutsch, und nicht die Unterrichtsmethode wird kritisiert, sondern der unmoderne Kanon.

Böll, Andersch, Brecht oder Kafka kamen kaum im Unterricht vor.

In fast jedem Interview kommt aber der eine Lehrer, der “anders“ war, vor. Dies scheint für die Interviewten besonders wichtig gewesen zu sein. Ich zitiere von vielen Beispielen nur zwei:

… da hatten wir einen Lehrer, der aus der DDR gekommen war, … der hat uns als Antikommunist mit Brecht bekannt gemacht , mit Brechts Werken, und das erste, da sagte er: Ich diktiere jetzt mal ein Gedicht. Und das war dann das Gedicht „An die Nachgeborenen“… (Interview 1)

… unsere Deutschlehrerin kam etwa 66 aus Frankfurt, sie hatte in Frankfurt studiert, und kam dann in unser Nest, und hat uns mit Wagenbach konfrontiert, und Enzensberger, und Günther Eich, – in der Schule – das war aber an unserer Schule Skandal. (Interview 6)

(807)

 Auswirkungen auf den Unterricht

 Unterrichtsinhalte:

 Die Auswirkungen von „1968“ im Unterricht waren erst einmal  inhaltlicher Natur. (Vgl. Reimer S. 303ff, S. 332). Plötzlich wurden ganz andere Stoffe behandelt, teils angeregt von den Schülern.  Politische Aktualität, z.B. die Notstandsgesetze, oder allgemein der Studentenprotest wurden im Unterricht Thema.

Neue Lektüren erscheinen, wobei die alten Schulbücher, in denen diese Stoffe vernachlässigt werden, zugunsten von Originaltexten zurücktreten:

 … das war mir dann schon wichtig, dass die zum Beispiel Marcuse lasen. Ich habe Textstellen, von denen ich glaubte, sie seien für Oberstufenschüler eingängiger, ausgewählt, …  über „Kultur und Gesellschaft“ und zum Begriff der repressiven Toleranz … , und das weiß ich noch, wie ich das mit großem Erfolg intensiv mit denen wirklich von A bis Z gelesen und durchgearbeitet habe – heute kaum mehr vorstellbar! (Interview 8)

Lenin wurde als Lektüre von Schülern durchgesetzt, (offenbar einmalig,) wobei der entsprechende Bericht auch etwas von der feindseligen Art der Auseinandersetzung und den Bemühungen des Lehrers, auf die Schüler einzugehen, zeigt:

…da wollte ich die Geschichte der Bundesrepublik von der ökonomischen Seite her, Verhältnis Staat und Wirtschaft …  analysieren, und es gab eine kleine Gruppe, von  Schülern, … die wollten, statt dessen, eine Broschüre von Lenin lesen, …quasi als Gebrauchsanweisung, wie man denn jetzt die Bundesrepublik zu sehen und zu verändern hätte.  In ungeheuer vielen Konferenzen haben wir dann erreicht, es ist höchst schwierig gewesen, dass die Schülergruppe tatsächlich ihren Unterricht selber machen konnte, ein ganzes halbes Jahr. Ich habe mich vehement dafür eingesetzt, weil ich mit diesen Schülern auch keinen Unterricht machen konnte, es war mir unmöglich, in dieser Konfrontation zu unterrichten, …, also da dachte ich manchmal, mir bleibt das Herz stehen. Das waren Anforderungen, die unerträglich …  waren, aber diese Konflikte zu moderieren, und den Schülern einen Weg zu weisen, ohne dass sie das Gesicht verloren, ihren Unterricht selber zu machen, das war mir wichtig. Wir haben dann einen Prüfungsmodus gefunden, wie das dann hinterher abgeprüft werden sollte, was die Schüler sich alleine erarbeitet hatten. Ich habe das unterstützt, weil ich anders nicht hätte Unterricht machen können, nicht, weil ich jetzt Lenin für die Quelle der Weisheit gehalten hätte. Im Gegenteil, ich habe mich ja geweigert, diesen Lenin sozusagen als affirmativ, als Unterrichtsmaterial einzusetzen.  …(Interview 2)

Hier wird auch deutlich, welcher ungewöhnlicher Anstrengungen es bedurfte, die erstrebte Selbstbestimmung und Autonomie der Schüler mit den Anforderungen der Schule („abzuprüfen“) zu vereinbaren, und es ist kein Wunder, dass eine solche Art von Selbstbestimmung keineswegs die allgemeine Gewohnheit geworden ist.

Allgemein lässt sich eine Bereitschaft erkennen, sich mehr an den Interessen der Schüler zu orientieren.

Ich habe mich in die Auseinandersetzung um das neue Oberstufenmodell (…) sehr reingekniet. Da habe ich die Möglichkeit von mehr Offenheit im Unterricht, auch von mehr Aktualität und mehr Motivationsmöglichkeiten für Schüler gesehen. Im Unterricht habe ich immer versucht, zu vermitteln, dass es wichtig ist, dass man den Bezug zur eigenen Gegenwart findet. … Natürlich habe ich aktuelle Ereignisse am nächsten Tag mit Schülern diskutiert, das ging auch oft gar nicht anders, weil Oberstufenschüler damals aktiv beteiligt waren. Sie waren abends an der Universität,  und haben sich beteiligt…  (Interview 3)

 Lehrer, die 1968 schon im Schuldienst waren, schildern eindrücklich die eigenartige Atmosphäre der Partnerschaft mit den Schüler(innen), die durch ein gemeinsames Interesse am Tagesgeschehen entstand, und die als etwas Einmaliges, später nie Wiedergekehrtes empfunden wird.

… ich hatte dann auch die Vorstellung: „Du hast da jetzt, eine Chance, du kannst das, was dir theoretisch vorgeschwebt hat, jetzt ganz praktisch umsetzen, du kannst deine Schüler politisieren, indem du sie einfach mitnimmst und mitreißt, bei all dem, was jetzt geschieht“. ( … ) und da war auch bei den Schülern eine ungeheure Aufmerksamkeit und ein Interesse da, das ich später, bei meinen Schülern (lacht) nie mehr in dem Maße wahrgenommen habe, und wonach man sich  nostalgisch sehnen könnte, ein Engagement, ein Interesse, die lasen den Spiegel, ohne dass man sie dazu angehalten hat. (…) Natürlich ging es den Schülern vor allem auch darum, mehr Einfluss auf die Unterrichtsorganisation zu nehmen, und sie waren froh zu merken, dass sie damit bei mir offeneTüren einrannten. Gemeinsam mit einem Kollegen gründeten wir einen politischen Schülerclub, der aber nicht in der Schule tagen durfte, weil der Schulleiter fürchtete, da geschähe politische Indoktrination. (Interview 8)

Auch hier wieder die bremsende und einschränkende Wirkung der Institution.

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 Methoden:

Methodisch sind die neuen Vorstellungen von Emanzipation und Autonomie aber nicht so schnell in die Unterrichtspraxis aufgenommen worden, wie vielleicht zu erwarten wäre, und das oben zitierte Beispiel der Schülergruppe, die Lenin lesen wollte, zeigt schon die Schwierigkeiten, die das herkömmliche Schulsystem einem solchen Versuch bereitete.

Die Bereitschaft, sich auf andere Unterrichtsmethoden einzulassen, scheint vom Jahrgang des jeweiligen Lehrers abzuhängen, denn es zeigt sich, dass die bereits erwähnten jüngeren Lehrer  die Neuerungen eher mit einer gewissen Zähigkeit gegen die beharrenden Kräfte durchsetzen, (TEXTE 1 und 2) während die Lehrer, deren Referendarzeit 1968 schon vorbei war, die Erfahrung oder theoretische Grundlegung für solche Neuerungen nicht mehr erwerben konnten:

Gruppenarbeit: traue ich mich nicht, denn immer wieder stelle ich fest, dass ich meine, ich könnte die Kontrolle über die Gruppen verlieren….. Und möglicherweise, die erste Klasse, die ich hatte, das war eine sechste Klasse, das war eine Katastrophe, und zwar deswegen, weil ich den Schülern viel zu wenig Rahmen gegeben habe, zu wenig eindeutig war, wobei ich gedacht habe, das wird sich schon heraus arbeiten. Es hat sich aber nicht herausgearbeitet, … Also, es gibt da Situationen, wenn ich mich an die erinnere, tritt mir der Schweiß auf die Stirn und unter die Achseln. … Ich habe aber immer den Eindruck gehabt, ich hätte einen relativ guten Schulunterricht erlebt, es war, durch Lehrer, die uns Vorträge gegeben haben, und die mit uns was gelesen haben, und, ich habe was davon gehabt.( … ) Und dieses Bild, dieser vortragenden Lehrer, das ist möglicherweise stärker als das, was sich dann sozusagen aus Einsicht oder Halberfahrung, oder Neill-Lektüre hätte durchsetzen können. Ich glaube, da war die Schule prägender als das, was ich dann gelesen habe. Und die negative Erfahrung mit den angelesenen Versuchen hat mich eigentlich dazu geführt, dass ich doch wieder lehrerzentrierten oder lehreraktiven Unterricht mache.

(Interview 1)

Lehrer(innen) erwähnen als theoretische Unterstützung etwa Tausch und Tausch (TEXT 2), die seit den Fünzigerjahren Forschungen zum Erzieherverhalten veröffentlicht hatten, und deren „Erziehungspsychologie“ 1970 in einer erweiterten, gänzlich umgestalteten Auflage erschien. Ein Unterrichtsstil, der auf weniger Lenkung – Dirigierung, eigene Tätigkeit der Schüler(innen) und eine „Reversibilität“ des Verhaltens der Erzieher gerichtet war, wurde wissenschaftlich untermauert.

Die etwa nach 1944 Geborenen konnte sich mehr Zeit lassen, etwaige missglückte Versuche mit Schülerselbstständigkeit zu verarbeiten, ohne sie ganz aufzugeben:

Oft ist es so, dass die Schüler ihre Interessen gar nicht so formulieren können. Als junge Lehrerin habe ich gedacht, ich gehe rein und sage: „Was wollen wir machen?“, so ungefähr, – Quatsch. Für die ist es eben Schule…. Aber dass man immer wieder Punkte hat, dass man das so organisiert, dass man denkt, da wäre etwas, was vielleicht die Schüler interessiert, das kann man ja auch wieder korrigieren, im Lauf einer Unterrichtseinheit.

(…)

. (Du machst aber regelmäßig so was wie Gruppenarbeit?)

Ich mache so was wie Gruppenarbeit regelmäßig. Wobei, wie gesagt, man muss aufpassen, Gruppenarbeit alleine ist es auch nicht.

(Interview 5)  517

Chancengerechtigkeit  und Benotung

Kraushaar sieht den Versuch, an den Universitäten einen Ort herrschaftsfreier Kommunikation und Interaktion zu errichten, als gescheitert an. „Das ubiquitäre

Sich – Duzen“ und die systematische Höherbenotung der Examina habe der Institution nur zum Schein ihre alten Herrschaftsfunktionen nehmen können (S.208)

Und wie ist das an den bundesdeutschen Schulen?

Die Forderung nach mehr „Bildungsgerechtigkeit“ war bereits durch die Anfänge der sozialdemokratischen Bildungsreform und die Gründung der ersten Gesamtschulen in den Sechzigerjahren angestoßen worden. Sie wurde von den protestierenden Studenten und den Nachfolge – Organisationen intensiv aufgenommen (z. B. die Kampagne des KBW „Keine Fünfen und Sechsen!“, auf die in Text 6 angespielt wird). Die Parteinahme für die Opfer, die Schwächeren, die als zentral für die studentischen Proteste gelten kann, verbindet sich mit der „technokratischen“ Bildungsreform, die aus wirtschaftlichen Gründen mehr qualifizierte Arbeitskräfte hervorbringen will.

Die von mir befragten Lehrer(innen) haben die Frage nach der Benotung und nach  „Chancengleichheit“, nur angeschnitten, wenn intensiv nachgefragt wurde. Es scheint sich dabei um ein „heißes Eisen“ zu handeln.

Die Äußerungen zu diesem Thema  erzeugen einen  Eindruck von Zerrissenheit.

Die Texte 3 und 4 sind Zeugnisse dafür, dass erfahrene Lehrer den Versuch, mehr Chancengleichheit herzustellen, als gescheitert ansehen.

Der Zwiespalt zwischen dem verinnerlichten Anspruch, möglichst vielen, unabhängig von ihrer Herkunft, die Chance zu höherer Bildung zu geben, und den Zwängen des Schulalltags erscheint in allen hier zitierten Texten und auch  in allen Interviews.

Wie die von Reimer interviewten Hamburger reagieren auch hessische Lehrer individuell auf den Widerspruch zwischen „Auslesen“ und „Fördern“.

Das geht von einer grundsätzliche Bereitschaft, sich auf ein Zusammenspiel von Auslesen und Fördern einzulassen (TEXT  6), über ausgeprägten Zweifel am Prognosewert der Zensuren (TEXT 5 ).

Ein Studienrat ließ sich nach einigen Jahren im Lehrerberuf dann doch die langen Haare schneiden, weil er nicht mehr als Altachtundsechziger, als  „sentimentaler Kerl“,  bei dem man noch ein bisschen was mit Noten rauskriegen kann, wahrgenommen werden wollte. Da er aber ein “weiches Fach“ habe, bei dem Wiederholen des Gelesenen schon „ausreichend“ sei, kämen die Leute doch bei ihm über die Runden. (Interview 4)

Mündlichen Noten können aber auch dazu verwendet weden, regelmäßige Anwesenheit zu erzwingen, sicherlich in allerbester Absicht, um einen kontinuierlichen Unterrichtsprozess zu gewährleisten…

Akribisch habe ich auch die Fehlquote, die mit 0 Punkten in die mündliche Teilnote einging, berechnet.

(Immer?)

Immer. Von Anfang an, denn mit abwesenden Schülern konnte ich nicht nur keinen Unterricht machen, sondern die Abwesenheit, die Diskontinuität hat ja jede Form eines kollektiven Unterrichtsprozesses unmöglich gemacht. Darum habe ich nicht nur formal auf Anwesenheit Wert gelegt, sondern es war mir wesentlich, dass die Schüler sich eingeklinkt haben in diesen Lernprozess der gesamten Klasse. (Interview 2)

 Im Gegensatz zu Reimer, der meint, die Ambivalenz zwischen Fördern und Fordern habe sich verringert (S. 334ff), konnte ich immer noch eine sehr starke Zwiespältgkeit erkennen.

Das zeigen noch einmal die beiden folgenden Stellen aus ein und demselben Interview:

1. Ich …  versuche das noch immer, jedem das Seine zu geben und trotzdem eine Vergleichbarkeit herzustellen. Ich sehe  ein, dass das notwendig ist. Das haben wir früher nicht so gesehen, da hat man die Noten auch als Repressionsinstrument gesehen.

(Tust du das jetzt nicht mehr?)

Nein. Würde ich überhaupt nicht so sehen.

(Noten sind für dich keine Repressionsinstrumente?)

Nein, sind keine Repressionsinstrumente – also, sie können es sein. Natürlich können sie es sein. Aber ich persönlich handhabe die Noten nicht in dieser Weise.

2. (Glaubst du nicht, dass an der Schule, an der du unterrichtest, Kinder aus bildungsfernen Schichten geringere Chancen haben?)

Doch, das glaube ich schon, und da – und da  möchte ich auch etwas dagegen setzen.

(Was?

… ich versuche in meinen Kursen  Lerngruppen zu organisieren, Unterstützergruppen, und so weiter, und … , Bis heute treffe ich mich oft mit Schülern, um mit ihnen zu lernen,   auch individuell. … aber ich weiß natürlich genau so gut, dass das alles seine Grenzen hat. Und ich weiß natürlich auch, dass einer, der aus schlechteren Verhältnissen kommt, trotzdem auch bei mir  schlechter bewertet wird als einer, der schon viel mitbringt. Das ist mir klar. Aber ich versuche, das wahrzunehmen und zu beeinflussen.. (Interview 7)

Reimer merkt immer wieder an, die Lehrer stellten das Notensystem nicht grundsätzlich in Frage, sondern arrangierten sich durch eine „weiche“ Linie bis hin zum Abitur (z. B.  S. 121, S. 176,S. 336).

Er fragt aber nicht, warum die Lehrkräfte sich zu arrangieren versuchen. Er erwähnt keinen einzigen Konflikt, in dem nach 1968 die Zensurenfrage zur Disziplinierung von Lehrer(inne)n geführt hat. Auch die von mir Befragten sind im Schuldienst geblieben, obwohl sie vielleicht früher Konflikte mit der Schulaufsicht wegen der Notenfrage hatten.

Es ist  kaum untersucht – eine solche Untersuchung wäre ein lohnendes Vorhaben, – wieviele Lehrkräfte damals wegen Konflikten in der Bewertungsfrage den Lehrerberuf  verlassen haben. Der in Text 6 erwähnte Konrad Wünsche ist nur ein Beispiel, und im Frankfurter Raum wäre das Abendgymnasium I, von dem in den späten Siebzigerjahren  wegen entsprechender langjähriger Streitigkeiten alle Lehrkräfte wegversetzt und einige aus dem Schuldienst entlassen wurden, nur ein Beispiel. Ich vermute,  auch im liberalen Hessen kannte fast jede Lehrkraft mindestens eine(n) Referendar(in), der oder die wegen „Einheitsnoten“ (die ganze Klasse bekam eine Zwei) diszipliniert oder nicht in den Schuldienst übernommen wurde, was nicht ohne Wirkung geblieben ist. Wenn man das Versanden  der 68er-Ideen im pädagogischen Bereich bedauert, dürfte man dies nicht vergessen.

Abgesehen von der Frage, ob die irrationale und kontraproduktiv wirkende Entschiedenheit, mit der jüngere Lehrer und Lehrerinnen die Notenfrage behandelten, sinnvoll gewesen sei, müsste doch beachtet werden, dass ein  Potential an Innovationsfähigkeit unter jungen Pädagogen  durch die Schulverwaltung aussortiert oder schon von imVorfeld  abgeschreckt worden ist.        1034

Beurteilung der Ergebnisse von „1968“:  

 Das Urteil der interviewten Lerhrer über die Ergebnisse von 1968 ist insgesamt eher positiv und sie halten die die Veränderungen im Bereich von Schule und Erziehung für bedeutend. (Vgl. dazu den Pessimismus Kraushaars, z. B. S. 210ff)

Dagegen sehen sie einen Misserfolg im Produktionsbereich: Eine andere Art der Arbeitsorganisation , wirkliche Mitbestimmung am Arbeitsplatz hat sich nicht durchgesetzt.

Was bedeutet dieses Ergebnis?

Ich habe die beschriebene Befragung durchgeführt, weil ich davon ausging, dass die Erinnerung der Zeitzeugen über „1968“ gesellschaftlich relevant sei. Das subjektive Urteil  über die Bedeutung dieses Ereignisses für den eigenen Beruf ist auch dann wichtig, wenn es möglicherweise zu negativ oder auch zu illusionär ist. (Über das Problem der historisch „zutreffenden“ Erinnerung vgl. Reimer S. 21/22).

Wie sich die Atmosphäre an den öffentlichen Schulen der Bundesrepublik verändert hat, ist auf jeden Fall ein Gradmesser für die Entwicklung der Mentalität ganz allgemein.

Etwa die Skrupel und die Ambivalenz, die sich am Beispiel der Zensuren zeigt, könnte man kurzfristig als unerheblich betrachten, wenn doch die Kinder aus bildungsfernen Familien trotzdem immer noch benachteiligt sind  – aber : dass sich ein Bewusstsein über das Prolbem über mehr als dreißig Jahre gehalten hat, hat vemutlich doch Folgen gehabt und wird sie möglicherweise noch haben.

Was die Schule und die Erziehung betrifft, erwähnen mehrere der Befragten, dass sie ihre Kinder anders erzogen hätten, als es vor 1968 der Fall gewesen wäre. Ein Studienrat spricht ausführlich über die Gründung eines Kinderladens, an der er beteiligt war. Als wichtig werden auch die Änderungen gesehen, die sich auf alle Eltern ausgewirkt hätten, insbesondere in Kindergarten und Grundschule.

Wenn man daran denkt, wie die Kindergärten sich geändert haben, zum Beispiel. Oder auch die Erziehung. Auch diejenigen, die 68 nicht dabei waren, das Erziehungsverhalten, oder die Werte, die man vermitteln will, in dieser Generation, sind doch andere gewesen. Nicht unbedingt Höflichkeit, sondern schon so etwas wie Selbständigkeit, Selbstbewusstsein. … In den Kindergärten und Grundschulen hat sich wirklich unheimlich viel geändert, im Verhältnis zum Gymnasium. Ich habe das bei meinen Kindern mitgekriegt, die haben eine ganz andere Grundschulzeit gehabt als ich, formal, und auch inhaltlich, während komischerweise das Gymnasium eigentlich sehr unbeweglich gewesen ist. … diese Oberstufenreform, die nun auch wieder zurückgeführt wird, aber auch die Unterrichtsmethode: Überwiegend Frontalunterricht, machen wir uns nichts vor, …

(Interview 5)

 Die Frage danach, ob sich den „Ideen von 1968“durchgesetzt haben, brachte insgesamt das Ergebnis, dass sich eine gewisse Übereinstimmung erkennen lässt darüber, was mit diesen „Ideen“ gemeint ist. Man könnte die indirekt aus den Antworten eschließen, dass alle Befragten schließlich eine größere Selbstbestimmung, einen Sieg des Individuums über die Gruppe, nach Hobsbawm, verstehen.

Ob es heute in der Bundesrepublik mehr individuelle Freiheit gibt als vor 1968, wird allerdings wiede ganz unterschiedlich beurteilt. dies sollen abschließend zwei Zitate zeigen, die etwa den  maximalen Kontrast der geäußerten Meinungen darstellen:

( Ich wollte mit meiner Frage darauf hinaus, ob nach deiner Ansicht die Ideen von 1968, ganz allgemein gesehen, sich durchgesetzt haben, oder nicht.)

Ich würde sagen, generell nicht, generell nicht. Ja, wohl, was soll man sagen? Man kann sagen: Ja, man kann sagen : Nein. Wenn ich hier, mitten in dieser Konsumgesellschaft, lebe, und es ist ein Imperialismus, und es herrscht der Zynismus, ich würde sagen, wir sind vom 20. Jahrhundert gleich wieder ins 18. Jahrhundert rein. Wir haben eine zynische, eine konventionelle Welt, ängstliche Leute, nur nicht die falschen Schuhe kaufen, und…und immer bei jedem richtigen Event dabei sein, nichts verpassen,, weiter anpassen, da muss ich sagen: Was hat sich da durchgesetzt? In der Praxis nichts, würde ich sagen… (Interiew 4)

 Das würden die Kritiker von 68 nie zugeben, dass das etwas damit zu tun hat, aber es ist allgemein gesellschaftlicher Usus geworden, kritischer zu sein. … auf der Ebene der Toleranz, dieser Umgang miteinander, der eindeutig dem Miteinander – Reden und Versuchen, Konsens irgendwie herzustellen, den Vorrang vor irgend welchen Obrigkeitsentscheidungen gibt, das scheint mir eine Grundhaltung zu sein, die man nicht mehr rückgängig machen kann, und die sich ohne 68 nicht eingestellt hätte. Deswegen habe ich auch nicht so diese ganz schlimmen Befürchtungen, gegenüber einem möglichen Rückfall unserer Gesellschaft in faschistoide Richtungen. Da glaube ich, ist diese Gewöhnung an Demokratie und Demokratieformen und die Erkenntnis, was man doch davon hat, an Freiheiten, Rechtssicherheit, usw., das ist fortgeschritten, und wenn man so will, ist das eine Folgeerscheinung dieses , wie ich vorhin schon mal sagte, Demokratisierungsschubs. (Interview 8)

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II                            ZITATE AUS DEN INTERVIEWS

 A. Wie hat sich 1968 auf Ihre Unterrichtspraxis ausgewirkt? (Methoden, Ziele)

TEXT 1

(Ich meinte auch – Unterrichtsmethoden, Stichwort „Selbsttätigkeit“)

… das ist ein Luxus, stört direkt das System. Wenn ich zwei, drei Wochen keinen regulären Unterricht mache, sondern die Schüler eines Kurses betreue bei selbständigen Arbeiten, ist das die absolute Ausnahme an der Schule, das machen zwei Leute, und es ist also – fast gegen die Logik

(Das machen zwei von den Lehrern?)

Zwei von den Lehrern.

(Wie ist es gegen die Logik?)

Ja, gegen die Logik des Systems, ja permanent diese Arbeiten zu schreiben, unsere Schule wird ja durch mehr Vorschriften, vielleicht doppelt oder dreimal so viele Vorschriften gesteuert, als vor dreißig Jahren. Ja, und auch das ist kein Ergebnis der Studentenbewegung von 68, sondern ist einfach ein ausgereizter Bürokratismus, der sich modernisiert hat, durch Gerichtsurteile, durch diese neue Moral, dass man eben auch alles einklagen kann, und dann die Schulen oder die Institutionen sich dagegen wehren, indem sie formale Sicherungen einbauen, und die formalen Sicherungen stören wieder den Unterricht, die Arbeit: „Nicht mehr als drei Arbeiten in einer Woche, muss vorangekündigt werden, muss eine Mindestlänge haben“, und, und, und, was der Sachen mehr sind. Das alles ist dann ein Korsett. Als Außenseiter, kann man immer noch – in Hessen – das machen, vielleicht, weil ein paar 68er in der Schulverwaltung hoch gekommen sind, die alles nicht so grade nehmen.

(Interview 4)

 TEXT 2

…Tausch – Tausch fällt mir da gerade ein, und diese Nürnberger – Trichter – Geschichte, und da ist mir klar geworden, dass Lernen ein Prozess ist, der bei den Schülern selbst ablaufen muss, (Ja)  – Und den man nicht stellvertretend als Lehrer wahrnehmen kann. Das ist, glaube ich, die Grundlage gewesen für alles

Weitere. Ja, das war wieder die Erfahrung an der Universität, und das, denke ich, ist auch, ein Erbe der Achtundsechziger – (Ja) Aufbrüche gewesen. Dass man halt den Menschen als Individuum ernst nimmt.

(Du machst ja heute noch viel Gruppenarbeit? Wie ist es denn heute?

Ja, nach wie vor gut. Nach wie vor gut. Ich werde da immer wieder bestätigt, dass ich darüber mich zurücknehmen kann als Lehrer, und in eine Beobachterposition reinkomme, in der ich sehr viel mehr über Schüler erfahre, als wenn ich vorne agiere, mich konzentrieren muss auf die eh schon Aktiven … Ich habe Gruppenarbeit jetzt konsequent gemacht, drei, vier Mal hintereinander, und siehe da, die Schwächeren können auch was, man muss die halt nur zum Zuge kommen lassen können. Und auch bei den Stärkeren, wenn die tatsächlich mal das selber formulieren müssen, ohne dass ständig mein Kommentar oder meine Anregung dazu kommt, oder die Anregung eines anderen, dann müssen die auch ein bisschen mehr tun. … das ist  nicht die allein glückselig machende Methode, aber eine ganz wichtige Methode, um im Unterricht die Selbsttätigkeit der Schüler herbei zu führen. Dass die wirklich selber mit dem Material sich auseinander setzen müssen und selber zu Ergebnissen kommen müssen.. Es ist trotzdem schwierig.

(Interview 6)

 B. Benotung, Chancengerechtigkeit

  TEXT 3

Sie haben vorhin schon das Wort „Bildungsgerechtigkeit“ genannt ( … ). Hat sich das auf Ihre Schulpraxis, auf Ihren Umgang mit den Schülern, ausgewirkt? Diese Forderung der Bildungsgerechtigkeit?)

Ja, als Anspruch sicherlich. Diese Gesamtschulen hatten ja den Anspruch, Schülern, die von ihrer Herkunft zum Beispiel nicht über eine elaborierte Sprache verfügten, kompensatorisch beizukommen, und sie zur besseren Teilhabe, und zum höheren Schulabschluss.zu bringen.

( … )

… das war schon ein Anspruch, den wir als Lehrer dieser Schule hatten, dass wir Kindern, die im traditionellen Schulsystem, wie wir das damals abgekürzt gesagt haben, gescheitert wären, zu höheren Abschlüssen verhelfen wollten. Inwieweit das gelungen ist, das ist eine ganz andere Frage, ich bin da heute eher skeptisch, und denke, da haben wir uns auch was vorgemacht, weil mir scheint, dass die Herkunft nach wie vor das maßgeblichste Element dafür ist, welche Bildungschancen die Kinder haben.

(Würden Sie aus Ihrer Erfahrung sagen, das ist kein sprachliches, oder nicht nur, ausschließlich ein sprachliches Problem?)

Das ist sprachliches Problem, weil Denken und Sprache zu eng zusammenhängen, aber, diese Sprache lernt man in einem bestimmten Alter, glaube ich, nicht mehr. Wenn die Schule da zugreift, dann ist das zu spät, und das lässt sich nicht mehr wirklich kompensieren. Man hat darüber geredet, aber das hat ja auch keine praktischen Konsequenzen gehabt, das hat ja auch die Schulpolitik verhindert, Wege zu suchen, die nonverbale Intelligenz, … stärker zu betonen, ja, didaktisch umzusetzen… Wie macht man das, Schulerfolg zu garantieren, ohne dass man sich verbalisiert oder wo es nicht im Vordergrund steht. …..Schulen, und weithin auch diese Gesamtschulen, liefen über Sprache und das Verbalisierungsvermögen der Schüler…

(Aber dieser Anspruch, und Sie haben auf die Untersuchungen von Bernstein, Oevermann, sich wohl bezogen, sind die in Ihrer Lehrerausbildung schon vorgekommen?)

Nein, da ist das nicht vorgekommen. 62 bis 64 hat man das noch nicht diskutiert.

(Das ist dann (erst) an der R. – Schule, sind Sie damit konfrontiert worden.?)

Ja.

Interview 3)

TEXT 4

(Hat dieser Begriff „schichtenspezifische Sozialisation“ in Ihrer Praxis eine Rolle gespielt?)

Das ist eine gute Frage … Die hat eine Rolle gespielt in der Sekundarstufe I, … und das war die Frage … der Benachteiligung von Ausländern,… Das ging so weit, dass es Kollegen gab, … die der Meinung waren, man müsse Schülern, die aus Arbeiterfamilien oder was auch immer wir darunter verstanden .- das war oft gar nicht so einfach zu identifizieren: Wo kommen die her, wie ordnet man das ein, aber eben Unterschichtenkindern, – … einen Bonus geben, und dass man die besser beurteilt, denen bessere Noten gibt. Das waren tatsächlich Positionen, die ernstlich vertreten wurden, und womit man tatsächlich sich auseinander setzen musste, das war da im Schwange.

(…)

(Haben Sie persönlich bei Ihrer Notengebung irgendwelche Skrupel gehabt gegenüber diesen Kindern aus bildungsfernen Schichten…?)

Ja. Sehr. Vor allen Dingen auch immer, wenn es um die Frage der Ausdrucksfähigkeit und der sprachlichen Kompetenz ging,  (…) Ich habe da immer geschwankt zwischen meinem Anspruch in der Sache und auf der anderen Seite diesem Gefühl, dass ich die Schüler immer für etwas bestrafe, (ja) wofür sie eigentlich nichts können, und wofür sie nicht verantwortlich sind, und vor allen Dingen, dass es dann doch letzten Endes immer wieder die ausländischen Schüler am meisten getroffen hat, und dass die dann am benachteiligtsten waren. Ich meine, diese Einsicht hatten wir fast alle, aber wir konnten dem nichts effektiv entgegensetzen. Das wären ja auch Ziele gewesen, die wir aus der 68er – Bewegung mit transportieren wollten und die eigentlich versickert sind (ja), und wo ich sagen würde, da sind wir doch weitgehend gescheitert.

(Interview 8)

TEXT 5

        …   die Aussagen, die Lehrer über Schüler machen, sind wirklich nur sehr begrenzt. Und meine Tendenz ist, eher noch einem schwachen Schüler mit einer guten Zensur zur Versetzung zu verhelfen, …  also, ich bin da auch eher nachsichtig..

(…)

was ich vorhin schon gesagt habe, all die Schüler, bei denen ich denke, denen fehlen einfach so die sprachlichen Ausdrucksfähigkeiten, von   zu Hause, der holpert so mit seinen Sätzen, und ich bemühe mich dann, rauszukriegen, was meint er vielleicht, der hätte bei mir auch gute Chancen, das sind häufig Kinder, die sich mündlich durchaus gewandt ausdrücken können, denen fehlt aber einfach diese schriftliche Fähigkeit, sich auszudrücken, und so ein Schüler, der würde dann bei mir immer noch nachsichtiger beurteilt als bei anderen Lehrern. Nun …  habe ich die Erfahrung gemacht, bei uns an der Schule, dass ein großer Teil meiner Generation wegen unserer Fächer 68 mit dabei gewesen sind. Also, ich glaube, diejenigen, die eher auf der Straße waren, die engagiert waren, waren eher Studenten der Geisteswissenschaften als der Naturwissenschaften. Und da finde ich sehr viele wieder. Auch bei uns an der Schule, …  also wir sind uns da relativ einig, wobei es auch die Front der anderen gibt, das ist gar nicht das Problem.

(So eine härtere Linie?)

Ja. Es ist schon das Problem, … wir haben das Gefühl,. wir machen den Ausgleich für Physik 4 Punkte, oder so was. Aber, … manchmal stört mich das schon. Dass dann gesagt wird: „Naja, in Geschichte 11 Punkte, was ist das denn schon“, so ungefähr. Aber ich stehe da eigentlich darüber.

(Interview 5)

 TEXT 6

(Wie ist es für dich, wenn du Noten gibst, diese Vorstellung, die Schule sollte Chancengerechtigkeit geben, spielt das eine Rolle für dich?)

Ja. Ja. So sehe ich auch meine Schule. Das ist für mich wirklich noch eine Schule, wo man diese Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit (lacht) in minimalster Weise natürlich, aber mehr als in jeder anderen Schulform noch zu verteidigen hat. Ich sehe das wirklich so, wie … mein eigener Lebensweg, das ist mir total deutlich geworden, dass die Kinder der damals „unterprivilegierten Schichten“ – auch so ein Seminar aus meiner Zeit in M., wo ich mich selber wiedergefunden habe, dass diese Chancengleichheit jetzt auch den ausländischen Schülern, in ihrer zweiten oder dritten Generation, also den Migrantenkindern, zukommen muss.

( … )

(1968 hat wohl an der Schule viel verändert. Umgang zwischen Lehrern und Schülern, Notengebung? Kannst du da etwas dazu sagen? Wie du das wahrnimmst, ob das sich verändert hat, durch diese Ideen?)

Als ich an die Schule kam, war dieser Glaube an die Revolution durch die Schule schon ausgeträumt. Diese Phase mit: „Wir weigern uns, Fünfen und Sechsen zu geben“, habe ich nicht mehr miterlebt.

 (Wann warst du Referendar?)

79/80. …Die Phase war vorbei, dass man sich als Lehrer eher mit den Schülern identifiziert, und sich weigert, die Rolle dieses Aussortierens und Selektierens wahrzunehmen… Ich habe damals ein Buch gelesen, Wünsche, „Die Wirklichkeit des Hauptschülers“, der lebt den Zwiespalt aus, hat sehr viele schöne Ansätze darin beschrieben, wie er versucht, in die Situation der Schüler hineinzukommen, und sein eigentlicher Befreiungsakt ist, dass er mit einer Schülerin schläft und anschließend den Dienst quittiert. … Und an dem Punkt ist für mich die Diskussion eigentlich zu Ende gewesen. Das war für mich hirnrissig. Ich bin nicht mit großer Überzeugung Lehrer geworden, sondern da hineingeschlittert. Aber diese Rolle selber hat mir dann keine besonders große Mühe gemacht, dass man selektiert, ist mir dann sehr schnell bewusst geworden, und dass man halt auch Noten zu verteilen hat, und dass man in einem bestimmten System auch Rädchen ist. Aber das hat mir nie die Möglichkeit genommen, dass man trotzdem für die Schüler was machen kann. Und dass man die Schüler als Schüler auch ernst nehmen kann.

Ich war …  an einer additiven Gesamtschule tätig und auch im Hauptschulzweig eingesetzt worden als Deutschlehrer. Und ich habe mich immer über die Kollegen geärgert, die gesagt haben: „An der Hauptschule kannst du nichts machen. …  Die dürfen ein Gedicht auswendig lernen, und das mache ich dann als Arbeit, dann dürfen sie das aufschreiben, und dann kriegen sie mal eine Eins, dann freuen die sich.“ Damit nimmt man doch den Schülern die Möglichkeiten, die natürlich beschränkt sind, etwas zu lernen und sich weiter zu entwickeln. Und – natürlich muss man selektieren, natürlich muss man auch mal jemanden sitzen lassen, wenn er nichts tut, oder wenn die Probleme so gravierend sind, dass er das nicht schafft, aber ich muss sie doch immer fordern. Und ich darf mich da nicht einfach verstecken hinter Tricks.

(Interview 6) 1840

                                                    LITERATUR

BUDE , Heinz: Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 – 1948, Frankfurt 1997

HOBSBAWM; Eric: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrunderts, München 1998

KOENEN, Gerd: Das rote Jahrzehnt unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967 – 1977, Köln 2001

KRAUSHAAR , Wolfgang: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000

MINDEMANN , Tobias: Die 68er und was aus ihnen geworden ist, München 1988

REIMER , Uwe: “1968“ in der Schule.Erfahrungen Hamburger Gymnasiallehrer und – lehrer, Hamburg 2000

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