‘Nachgeschichte, Postmoderne und Telematik’ (Michael Hanke)

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‘Nachgeschichte, Postmoderne und Telematik: Chiffren philosophischer Gegenwartsdiagnostik bei Vilém Flusser’ wurde von Michael Hanke auf dem Kongress in Natal im Dezember vorgetragen und ist in dem Kongressband “Vom Begriff zum Bild” S. 103-134 im Dezember 2013 im Tectum Verlag, Marburg veröffentlicht. Ich habe dem Autor meine Einschätzung seines Aufsatzes zugeschickt. Er zeigte sich darüber erfreut

 

Lieber Michael Hanke,

Ich war gespannt gewesen, wie Sie die harmonisierenden Erwartungen eines solchen Kongresses (ich kannte nur das Programm und ein paar Autorennamen) mit Ihrem kritischen Geist versöhnen. Die Lösung überzeugt mich, wenn ich so großspurig formulieren darf.

Sie spannen einen starken Bogen von den fünfziger Jahren bis in Flussers letzten Tage. Die Beherztheit, mit der Sie bereits im ersten Satz den das ganze Werk Flussers durchziehenden Anspruch formulieren – die Bestimmung dessen, was unsre Gegenwart ausmacht – und dann als Leitlinie durchhalten, relativiert alles, was mich immer wieder an Flusser geärgert hat. Sie schreiben keine weitere Flusser und…-Studie, etwa oder und Heidegger oder Lyotard. Und Sie fragen nicht nur rhetorisch: Wie sieht es aus mit der Aktualität seines Denkens?

Ich würde deshalb den Vortrag gerade auch als Einführung für Studierende empfehlen. Die sollten nicht mit einer unverbindlichen Führung durch das Unternehmen Flusser beginnen oder irgendeinen Seiteneingang benutzen. Etwa den, über den Sie schreiben: Flusser zeigt auch, dass er weniger an Medientheorie interessiert ist als vielmehr an der Geschichte der Wissenschaft und den Formen des Wissens. An der Kommunikation nimmt Flusser die Revolution nur besonders deutlich wahr. Zu seiner Zeit traten die elektronischen Massenmedien weltweit ihren Siegeszug an, zusammen mit den Apparaten der Konsumgüterindustrien.

Sie verstehen sich nicht nur als Exeget. Sie unterstellen ein erwachsenes Interesse des Lesers an diesen Fragen, unabhängig vom Autor, und Sie positionieren Flusser dazu. Eine abschließende Bewertung Flussers ist, wie Sie sagen (S.22) nicht geboten, aber auch nicht nötig. Er selbst hätte das – vielleicht erst nach reiflicher Überlegung – nicht verlangt. Er wollte diskutieren. Sagt er. (Ich bin leider noch keiner kontroversen Diskussion als Dokument begegnet. Empfehlen Sie mir eins?)

Ich möchte auch etwas zu den von Ihnen auf dem Weg vorgestellten Texten Flussers sagen: Die Zwiegespräche scheinen lohnenswert. Mir fielen auch die nach Brasilien gerichteten portugiesischen Texte Flussers der 1980er Jahre auf. Und ich werde mir die Nachgeschichte mit allen Anhängen wieder vornehmen.

Exkurs:

Ich habe Von der Nichtigkeit der Geschichte (1966, erwähnt auf S.4) jetzt wieder gelesen und fühle mich erkannt: Es ist etwas Unwirkliches an der Geschwindigkeit einer Rakete, an der Denkfähigkeit eines Computers  und an der Kraft der H-Bombe, schreibt er da. (134) „Wir fühlen uns verraten. Allein und verlassen sind wir unter mitten unter neue Dinge geschleudert worden (135).  Insofern wird das Wort von der Nichtigkeit der Geschichte unabweisbar.

Auch bei mir bemerke ich eine Tendenz, die Tatsache nicht an(zu)nehmen, dass wir enterbt wurden. (136) Aber ich glaube im Grunde selbst nicht mehr, dass die Geschichte auf diese Weise – über Historizismen wiederbelebt werden kann. (136) Dabei kann mich Flussers Bemerkung über das „Kicken toter Pferde“ jederzeit wieder aufregen.

Seine Behauptung, es gibt schon die Instrumente, die diese unterentwickelten Regionen zerstören und automatisch in entwickelte verwandeln werden (135), muss nur richtig gelesen werden: Es geht um einen momentanen Niveauunterschied nach unten, nicht mehr. Über die Verwüstung hat er anderswo deutlicher geschrieben, als hier, wo er  die Tonart des Fortschritts benutzt, etwa: noch große Stücke der Natur zu erobern (134).

Der menschliche Geist sträubt sich, dem Problem ins Gesicht zu sehen, weil er in seinem Versuch, das Problem zu lösen, von der Geschichte verlassen fühlt (135). Hat Flusser deshalb nach 1966 noch einmal explizit theoretisch die Chance eines brasilianischen Weges durchprobiert als er im Leben gegenläufig den Weg in die Metropolen suchte? Vierzig Jahre später würde er vielleicht in Brasilien bleiben und den komparativen Standortvorteil eines Schwellenlandes theoretisch nutzen wollen.

zu 3.4 (S.114):

Mikroskop und Teleskop sind heute digitalisierte und daher unendlich leistungsfähigere Apparate als zu Flussers Zeit. – Sie zitieren einen prophetischen Satz von 1987: Das hiermit verbundene Vordringen ins Unmenschliche schlägt wiederum auf den Menschen zurück, so dass dieser nicht mehr im protageischen Sinne da Maß aller Dinge ist, und unter diesen Schlägen bricht der Humanismus zusammen. S.8  (Nachgeschichte,327) – ja, der Humanismus im Medizinbereich, und im Sozialen (ja in der Arbeitswelt, allen Arten digitaler Profile, und so weiter) Der Aufsatz bietet noch mehr solche Impulse, der Sache auf den Grund zu gehen.

Wirkungen  auf mich:

Ich akzeptiere an dieser Stelle uneingeschränkt den Eros der engagierten Flusser-Autoren, seine auf viele Fragmente verstreute Theorie zu versammeln, zu realisieren, zum Leben zu erwecken. Ihr Aufsatz ist natürlich – wie alle anderen – keine Einführung in eine ausgearbeitete Theorie, sondern eine sie substituierende, synthetisierende Konstruktion, aber auch ein bilanzierender Blick auf seine Hinterlassenschaft. Dass erst nach seinem Tode die Kommunikation über sein Werk in  Gang gekommen ist, macht mich nachdenklich. War er sich darin selbst im Wege?

Der Spannungsbogen in Ihrer Schilderung macht auch den Eigensinn Flussers begreiflich, seine Kompromisslosigkeit und Schroffheit, die er gegenüber Zeitströmungen bewies, wenn er die Erwartungen von Redakteuren, Freunden und Kollegen, Teilnehmern an Konferenzen, sowie von Fotografen, Künstlern und anderen Interessengruppen beiseite wischte.

Und das ist mein sehr provisorischer Schluss: Der Aufsatz ist fokussiert auf Flussers lebenslange Frage nach den gegenwärtigen Tendenzen und auf deren Entwicklung bis zu ihrer posthistoristischen Gestalt. Diese ist nicht problematischer als andere Eigenheiten der flusserschen Theoriebildung und Ausgestaltung, die Sie andeuten. Sie bieten jedenfalls auch dem, der über Flusser hinausklettern will, ihre ineinander verschränkten Hände zum Aufstieg an.

Freundliche Grüße von Kontinent zu Kontinent!                Ihr Detlev von Graeve

14.4.2013

 

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