„Vom Gast zum Gastarbeiter“ – Text und Interpretation

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Text  –  mit Kürzungen ()

Einem ‚Gast’, der in weiten Abständen und aus weiter Entfernung Europa besucht, fällt nicht nur die Institution des Gastarbeiters auf, sondern auch dies seltsame Wort, das man in deutschsprachigen Ländern geprägt hat. Selbstredend, sprachliche Vernebelungen und Beschönigungen sind überall an der Tagesordnung. Aber diese ist doch bezeichnend für unsere allgemeine Lage. Sie spricht auf den Begriff des ‚Gastes’ an, also auf einen in allen primitiven Kulturen geheiligten, und auf den des ‚Arbeiters’, also auf einen im neunzehnten Jahrhundert gefeierten Begriff, um etwa beunruhigte Gewissen zur Ruhe kommen zu lassen. Vielleicht weist sie dabei auf eine grundlegende Entwicklung unserer Kultur vom Gast zum Gastarbeiter (…)“.Der Gast ist konstante Gestalt aller Mythen, und Gastfreundschaft Teil aller Riten. Das ist auch so zu erklären: Der Primitive lebt in wenig zahlreicher und relativ isolierter Gesellschaft (in Stämmen oder Dörfern). Die Mitglieder seiner Gesellschaft stehen ihm sehr nahe in einem Sinn, den die moderne Gesellschaft verwässert. (Das ist mit ein Grund unserer Schwierigkeit, den Begriff des ‚Nächsten’ im biblischen Sinn zu verstehen.) Wenn in dieser Gesellschaft ein Fremder erscheint, dann erscheint er () ungewöhnlich, überraschend, verdächtig, kurz ‚anders’. Alle erwähnten Eigenschaften sind aber typische Eigenschaften der Gottheit.

Die Gastfreundschaft ist Teil jenes Rituals, das versucht, die Gottheit, das ‚Andere’ günstig zu stimmen. () Darum heißt es bei vielen Völkern „ein Gast im Haus, Gott im Haus,() darum opfert man dem Gast in manchen Kulturen nicht nur Salz und Brot, sondern die eigene Frau für eine Nacht.() Die Formlosigkeit, mit der wir Gäste empfangen, beweist unseren Abstand vom mythischen Urgrund und die Formen, die wir trotzdem bewahren, beweisen die Zähigkeit der Riten. ()

Technisch kann selbstverständlich der Gastarbeiter nicht mit einem Sklaven gleichgesetzt werden (). Er geht einen Vertrag frei ein, der Vertrag wird vom Gastfreund gehalten, und nach Ablauf des Vertrages ist er frei, mit seinen Ersparnissen heimzukehren. Allerdings ist dazu einiges zu sagen. Erstens gibt der Vertrag dem Gast kein genaues Bild von der Gastfreundschaft, die ihn erwartet. Zwar verbürgt er einen Lohn, der das Vielfache von dem ist, was das eigene Heimatland bietet. Aber er verschweigt, dass die Wohnverhältnisse, durch Vorurteile begrenzt und durch Spekulation hochgetrieben, einen großen Teil dieses Lohns verschlingen. Dass die Lebenskosten des Gastlands ein Vielfaches dessen sind, was sich der Gast vorstellt. () Und dass, selbst wenn unter Aufopferung von einigen Lebensjahren doch etwas erspart wird, diese Ersparnis auf kosten einer Entfremdung des Zurückgekehrten in der Heimat erkauft ist. ()

Zweitens ist dazu zu sagen, dass der Gastarbeiter ein seltsamer Fall von Gast ist, also ‚anders’ in einem seltsamen Sinn des Wortes. Sein bloßes Dasein im gastfreundlichen Land, sein Aussehen, seine von der Umgebung abstechende Armseligkeit, seine eine fremde Kultur bekundenden Gesten und Taten, drohen das wohlgefügte, aber immer bedrohte Gewebe der ihn umgebenden Gesellschaft zu zerreißen. Und darum wird er selbstverständlicher Blitzableiter etwa verdrängter Aggressionen (die sich dabei ja oft auf objektive Tatsachen stützen können), und dies wird durch die zahlreichen Bemühungen Wohlmeinender um ein ‚menschenwürdiges’ Verhältnis zu ihm unterstrichen.() Und der Gastarbeiter ist die Verwandlung des Gastes zum Werkzeug, dessen ich mich zeitweise bediene und dessen Werk, dank seiner Vergänglichkeit, so gering ist, dass für eine weitreichende Sorge kein Platz ist.

So gesehen, kann das Problem des Gastarbeiters nicht durch Maßnahmen ‚ad hoc’ , sondern nur durch radikale Umgestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen einer Lösung näher gebracht werden. Denn eins scheint ja sicher zu sein: der Reichtum Westeuropas (diese einmalige Erscheinung unserer Geschichte) ist vom hier angeschnittenen Problem irgendwie in Frage gestellt, und zwar nicht nur wirtschaftlich ( das wäre sicher zu lösen), sondern auch moralisch. Und die Art, wie diese moralische seite des Problems gelöst wird, ist zukunftsträchtig.

[1] ( Von der Freiheit des Migranten, Bollmann 1994,51-54)

 

Interpretation

Dieser Text aus den siebziger Jahren wurde erst von Stefan Bollmann aus Flussers Nachlass veröffentlicht wegen seines thematischen Bezuges zum „Migranten“.

Flusser fällt in Westdeutschland – als Besucher oder Rückkehrer aus Brasilien – ein speziell verlogener Euphemismus auf, der „Gastarbeiter“. Er zerlegt das Wortungetüm in seine zwei Bestandteile. Er stellt beide ihrem traditionellem Pathos vor, um seiner Betrachtung dann doch den Unterschied zwischen Sklaverei und Lohnarbeit zugrunde zu legen. Es geht um ein menschliches „Werkzeug“ für die industrielle Produktion. Flusser steigert die Verlogenheit des Euphemismus in satirischer Absicht durch eigene Ableitungen: „Freundschaftsvertrag“, „Gastfreund“ So weit wäre das eine geistreiche Glosse, mit moralischem Appell, da sie die missliche Situation des Gastarbeiters nachzeichnet. Sie bietet auch einen allgemein gehaltenen Lösungsansatz, wie wir ihn aus dem modernen Feuilleton kennen.

Flusser hat den Text vielleicht später als Steinbruch benutzt. So findet sich das Motiv der „Bedrohung“ der Einheimischen durch die Anwesenheit des „Gastes“ in Essays zur Migration, besonders in „Exil und Kreativität“ ausgeführt.

Anders als das Phänomen „Wohnwagen“ hatte das Phänomen „Gastarbeiter“ keine Zukunftsperspektive. Es war eine Lebenslüge reicher und selbstgerechter Länder und musste auch aus „zukunftsträchtigen“ , aber keineswegs moralischen Gründen, wie es Flusser vorschlug, aufgegeben werden. Dann wurde das Wort zum ‚Unwort’.

 

Ein Relikt der Gastarbeiterzeit

Ich besitze einen Gartenzwerg aus dem Schrebergarten meiner Wohnungsnachbarn. Das Ehepaar ließ ihn zurück, als sie mit Eintritt des Rentenalters in ihre spanische Heimat – mit eigenem Haus und ländlichem Garten – zurückkehrte. Der Schrebergarten mit Gartenzwergen – Man hat sogar ihre Farbe aufgefrischt – war immer ein ein zweideutiges Zeichen: Er konnte als Zeichen der Anpassung gelesen werden. Denn der Zwerg hat die deutsche Zipfelmütze auf dem Kopf und hält ein Buch, in Deutschland ein Gegenstand mit hohem Ansehen. Der Garten mochte der Familie aber auch den verlassenen Garten in der Heimat ersetzen. Die über Jahre unnötig beengte Wohnsituation der Familie, spanische Küchengerüche und das spanische Gezwitscher dreier Generationen hätten einem aufmerksameren Beobachter als mir in die andere Richtung weisen können. Zwei erwachsene Söhne blieben, als Deutsche ‚mit Migrationshintergrund’, wie man heute sagt. – Eine in allen Hochkulturen vorkommende, unspektakuläre Geschichte.

 

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